Automobilunternehmen haben in den vergangenen Jahren Milliarden in die Digitalisierung von Prozessen, Produkten und zunehmend auch Geschäftsmodellen investiert. Gleichzeitig stehen sie aktuell vor einer Reihe komplexer Herausforderungen, die sich aus Handelskonflikten, Umweltvorschriften und zunehmendem Wettbewerb durch neue Marktteilnehmer ergeben. Dies erfordert einen tiefgreifenden Wandel in der Art und Weise, wie sie Wert generieren. Künstliche Intelligenz (KI) kann dabei helfen, diesen Wandel erfolgreich zu bewältigen und eine starke Position für die Zukunft zu sichern. Dabei muss KI nicht nur zur punktuellen Optimierung einzelner Use Cases eingesetzt werden, sondern zur umfassenden, kontinuierlichen Verbesserung von Prozessen im gesamten Unternehmen. Unsere Analyse zeigt, wo die Automobilindustrie aktuell steht.
Der Ausgangspunkt für eine umfassende Nutzung digitaler Technologien, einschließlich KI, ist die Datenbasis, die sich in den letzten Jahren erheblich verändert hat. Um in diesen turbulenten Zeiten agiler zu reagieren und ihre Führungsposition in der Branche zurückzugewinnen, müssen deutsche Automobilunternehmen digitale Technologien und softwaredefinierte Produkte einsetzen und so schnell wie möglich das Potenzial der Digitalisierung voll ausschöpfen. Unser kürzlich veröffentlichter Deloitte Digital Maturity Index (DMI) 2025 hilft uns dabei, ein Bild vom Status quo der digitalen Transformation zu zeichnen.1
Der Digital Maturity Index (DMI) wurde gemeinsam von Deloitte und der Universität Duisburg-Essen entwickelt und berücksichtigt die vier Dimensionen Digital Business, Dynamic Capability, Digital Activity und Digital Capability, um den den Digitalisierungsgrad in der deutschen und globalen Fertigungsindustrie zu analysieren. Auf der Grundlage von mehr als 90 verschiedenen operativen und strategischen Parametern wurden sechs verschiedene digitale Archetypen definiert und Unternehmen auf der Grundlage ihrer gesamten digitalen Reise und Leistung eingeordnet. Die diesjährige Studie analysiert den Gesamtfortschritt von über 300 führenden Unternehmen in Deutschland vor dem Hintergrund mehrerer globaler Krisen, die sich unterschiedlich auf die betrachteten Märkte auswirken, und zeigt, wie sich die zahlreichen Initiativen übergreifend auf den Gesundheitszustand der Unternehmen auswirken.
Abbildung 1 zeigt den Anstieg des digitalen Reifegrades zwischen 2019 und 2025 im Durchschnitt der deutschen Branchen von 3,9 auf 4,9 und in der Automobilindustrie von 3,1 auf 4,8. Trotz aller Anstrengungen in den vergangenen Jahren liegt die Automobilbranche damit immer noch leicht unter dem Durchschnitt der deutschen Unternehmen, konnte den Abstand aber deutlich verringern.
Abb. 1: Durchschnittswerte deutscher Unternehmen branchenübergreifend und für die Automobilindustrie
7-Punkt Likert-Skala (1 sehr niedrig - 7 sehr hoch)
Die Studie belegt jedoch deutlich, dass die digitale Reife (DMI-Wert) stark mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit korreliert. Unternehmen, die ein deutlich höheres EBIT-Wachstum erzielen als der Rest, zeichnen sich durch hoch digitalisierte Geschäftsmodelle, eine weitreichende Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen in gemeinsamen Wertschöpfungsnetzwerken und eine generelle Veränderungsbereitschaft aus.
Die Digitalisierung ist auch die Grundlage für den aktuellen Trend zur Künstlichen Intelligenz, da KI-Algorithmen ohne die durch die Digitalisierung geschaffene Datenbasis nicht wirksam werden können. KI findet auch in der Automobilindustrie breite Anwendung, wie eine der Dimensionen des DMI zeigt (siehe Abbildung 1). Der Reifegrad der KI-Nutzung in der Automobilindustrie ist in den letzten fünf Jahren von 4,4 auf 5,4 gestiegen, liegt derzeit jedoch noch leicht unter dem Branchen-Gesamtdurchschnitt. Deutlich wird aber, dass KI-Anwendungen über alle Branchen hinweg derzeit wichtiger sind als der durchschnittliche Digitalisierungsgrad (DMI-Wert). Die Basis für eine erweiterte KI-Anwendung als kontinuierliche Verbesserung ist auf alle Fälle vorhanden – aber wird sie auch schon richtig genutzt?
Bei der Betrachtung der Potenziale von KI ist es wichtig, sich nicht ausschließlich auf einzelne Anwendungsfälle wie Sprachassistenten, Werkstatttermine oder Fahrsimulationen zum Testen autonomer Fahrzeuge zu konzentrieren, die unabhängig voneinander entlang der Wertschöpfungskette existieren. KI kann jeden Aspekt der automobilen Wertschöpfungskette verändern, vom Lieferantennetzwerk über den Vertrieb bis hin zum Kundendienst. Dies kann die Effizienz, Innovation und Produktqualität erheblich steigern, KI muss aber ganzheitlich in alle Funktionen und Geschäftsbereiche des Unternehmens integriert werden, um zu einer kontinuierlichen Verbesserung zu führen.
Die Grundidee des KI-basierten Unternehmens ist die Fähigkeit, das Wachstum des Unternehmens auf der erweiterten Nutzung der verfügbaren Daten aufzubauen, was im Idealfall kaum zusätzliche Kosten verursacht. In der kapitalintensiven Automobilindustrie wurde Wachstum bisher vor allem durch Absatzsteigerungen erzielt, was neue Fabriken, Einkaufsvolumina und Vertriebsnetze erfordert und damit auch die Kosten stark erhöht. Zusätzliche Umsätze und zusätzliche Kosten sind hoch korreliert, im Gegensatz zu KI-basierten Unternehmen, die genau diese Beziehung hinter sich lassen. Dieser KI-basierte Wachstumsmechanismus ist die Grundlage für die aus Sicht der Automobilindustrie hohen Bewertungen der großen Tech-Unternehmen in den USA und China. Dabei lassen sich drei essenzielle Werttreiber für KI-basierte Unternehmen unterscheiden2:
Alle drei Treiber zusammen führen zu den bei KI-basierten Unternehmen häufig zu beobachtenden exponentiellen Umsatz- und Bewertungssteigerungen, die die weitgehend linearen Steigerungen
kapitalintensiver Geschäftsmodelle abgelöst haben. Die Akteure der Automobilindustrie müssen sich daher auf den Weg zu KI-basierten
Unternehmen machen.
Im Rahmen einer im Jahr 2024 durchgeführten Unternehmensbefragung haben wir analysiert, welche der drei KI-Werttreiber aktuell in der Automobilindustrie eingesetzt werden und welchen Einfluss dies auf die Wertschöpfung im Unternehmen hat. Dabei zeigte sich, dass Scale und Scope durchaus genutzt werden und auch einen statistisch signifikanten Einfluss auf die Wertschöpfung der Unternehmen haben, während Learning (die KI-basierte Verbesserung des Geschäfts) noch keinen signifikanten Einfluss hat.3
Abb. 2: Statistischer Einfluss wichtiger KI-basierter Werttreiber auf dei Wertschöpfung in Automobilunternehmen
Im Jahr 2024 wurde eine globale Unternehmensbefragung mit 250 teilnehmenden Automobilunternehmen aus 13 Ländern durchgeführt. Dabei wurden sowohl Automobilhersteller als auch Tier 1-3 Zulieferer zu verschiedenen Themen rund um KI und deren Einsatz im Unternehmen befragt. Unter anderem wurde in Zusammenarbeit mit der Universität Duisburg-Essen ein Kausalmodell zur statistischen Signifikanzanalyse entwickelt. Dabei wurde unter Einhaltung der relevanten Reliabilitäts- und Validitätskriterien untersucht, inwieweit KI-basierte Werttreiber wie Scale, Scope und Learning das Geschäftsmodell der Unternehmen direkt oder indirekt beeinflussen.
Die Automobilindustrie, bislang bekannt für ihre kontinuierlichen Verbesserungsprozesse (KVP) bei Produktions- und Materialkosten, hat den Mechanismus der kontinuierlichen Wertsteigerung durch KI noch nicht gefunden, was auch den Anstieg der Bewertungen am Kapitalmarkt bremst. Statt einzelner isolierter Use Cases entlang der Wertschöpfungskette bedarf es vernetzter Optimierungsansätze, deren Daten durch Algorithmen kontinuierlich verbessert werden. Dies ermöglicht die Automatisierung von immer mehr Aktivitäten und setzt eine „Wertschöpfungsmaschine“ in Gang.
Auf der Kostenseite kann KI eingesetzt werden, um die Gemeinkosten durch Entscheidungsunterstützung deutlich zu senken – KI als das neue Lean für Bürojobs. Darüber hinaus wird die Entwicklung des autonomen Fahrens vorangetrieben, das nur in Technologieverbünden mit KI-Lösungen erreicht werden kann. Auf der Marktseite ermöglicht KI ein besseres Tracking einer differenzierten Kundenlandschaft, um Ertragspotenziale bei der Transformation von Verbrennungs- und Hybridfahrzeugen zu reinen Elektrofahrzeugen oder im Bereich Mobility-as-a-Service (MaaS) zu erschließen.
Jetzt geht es darum, einen verknüpften Datenpool aufzubauen und Algorithmen zu entwickeln, um datenbasierte Dienste anzubieten, die Kosten zu optimieren und das Software-Defined-Vehicle (SDV) wirklich zum Leben zu erwecken. Denn nicht nur bei Produkten, sondern bei der gesamten Kultur und Arbeitsweise von Automobilunternehmen müssen digitale Technologien in den Mittelpunkt rücken. Neue Marktteilnehmer agieren bereits eher als Tech-Unternehmen und sind in der Lage, agiler und softwarezentrierter aufzutreten. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen traditionelle OEMs reagieren.
Darüber hinaus müssen sich die etablierten Akteure besser an die sich ändernden Kundenbedürfnisse anpassen, da immer mehr potenzielle Autokäufer Wert auf Konnektivität und Software legen. Es ist wichtig, diese Bedürfnisse zu verstehen und das Produktportfolio entsprechend weiterzuentwickeln.
Dennoch gibt es keinen Grund, in allzu großen Pessimismus zu verfallen. Denn weiterhin muss ein Auto in erster Linie gefallen, oder besser noch: begeistern. Alle KI-basierten Dienste helfen wenig, wenn potenzielle Käufer das Auto nicht mögen. Gleichwohl sind die Digitalisierung und die darauf aufbauende KI eine notwen-dige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für zukünftiges Wachstum. Genau hier liegt die Chance für die deutsche Automobilindustrie, die über Jahrzehnte gezeigt hat, dass sie Kunden mit überlegenen Produkten begeistern kann. Warum sollte sie das nun verlernt haben?
Harald Proff | Global Automotive Sector Leader
Nicolas Zauner | Industry Insights – Automotive
1 Proff, H. et al. (2021). Digital Maturity Assessment – Bisherige Transformation, Typen digitaler Unternehmen, Branchen- und Ländervergleich. In: Accelerating Digitalization. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31456-9_5
2 Iansiti, M., & Lakhani, K. R. (2020). Competing in the Age of AI: Strategy and Leadership When Algorithms and Networks Run the World. Harvard Business Press. ISBN 1633697630, 9781633697638.
3Festing, C. & Proff, H. (2025). Uncovering the potential of artificial intelligence for business models. Under review for publication in Technology Analysis & Strategic Management.
Die Deloitte Industry Briefings analysieren Themen, die die Branchen bewegen, um kurzfristig und agil auf aktuelle Markentwicklungen und Branchenthemen reagieren zu können.
Harald Proff arbeitet seit 2015 bei Deloitte und ist Automotive Sektorleiter für Global/DCE/Deutschland. Sein Fokus liegt auf Transformationsprogrammen und neuen Geschäftsmodellen der industriellen Fertigung sowie der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung von Industrieunternehmen. Er ist der Gründer der Deloitte Digital Factory in Düsseldorf. Neben Deutschland hat er auch länger in Südkorea und Brasilien gelebt und gearbeitet. Nach seinem Studium in der Fachrichtung Wirtschaftsingenieurwesen und Maschinenbau und anschließender Promotion an der TU Darmstadt startete er als Manager für Industrialisierungsprojekte bei Mercedes Benz in das Berufsleben. Der Automobilindustrie ist er auch als Berater immer treu geblieben. Vor seiner Rolle als Automotive Sektorleiter war Herr Proff Lead Partner Operations Deutschland.