Hohe Energiekosten, zunehmende Regulierung und schwache Nachfrageimpulse insbesondere aus dem europäischen Binnenraum – das sind Botschaften, die häufig in Zusammenhang mit der europäischen Chemieindustrie gebracht werden. Auf der anderen Seite stehen über die vergangenen Jahre mehr als 30 Mrd. EUR Investitionen von außerhalb der EU und fast 40.000 Patente im Jahr als Beispiele für das externe Interesse und die eigene Innovationskraft. Doch was bedeutet das? Wir beschreiben drei gute Gründe und sechs Beispiele für starke und attraktive Segmente, die beweisen, dass die Industrie selbstbewusst und positiv in die Zukunft blicken kann – auch und gerade angesichts der aktuellen globalen Umbrüche und Herausforderungen.
Die Chemie ist nicht nur ein unabdingbarer Bestandteil unseres täglichen Lebens, mit einem Volumen von ~862 Mrd. EUR1 ist Europa nach Umsatz klar die zweitgrößte Chemieregion (nach China), wobei rund 70 Prozent dieses Umsatzes in Europa verbleiben. Dies bedeutet nicht nur eine stabile lokale Abnehmerstruktur, die europäischen Kunden der Chemieindustrie fragen zudem anspruchsvolle und margenstarke Produkte und Lösungen nach. Zusätzlich sind mittel– und langfristig Initiativen zur Stärkung der industriellen Basis Europas auf dem Weg, allen voran die Antwerp Declaration for a European Industrial Deal2 . Auch auf den Exportmärkten stellen europäische Chemieprodukte mit über 220 Mrd. EUR1 einen signifikanten Anteil, mit hochwertigen und innovativen Produkten.
Die europäische Chemieindustrie kann sich auf drei starke Pfeiler stützen:
Doch wie sehen ausländische Investoren die europäische Chemieindustrie? Auch hier bietet sich ein anderes Bild als oft dargestellt. In den vergangenen sechs (Krisen-) Jahren haben ausländische Investoren nicht nur fast 17 Mrd. EUR4 in die Stärkung ihrer hiesigen Geschäfte investiert, sondern fast die gleiche Summe für diversifikations-getriebene M&A-Transaktionen aufgewendet. Nicht-europäische Investoren haben sich also gezielt europäische Assets und Know-how außerhalb ihres Kerngeschäfts gesichert, nicht zuletzt mit einem Blick auf damit verbundene globale Chancen, die Europas Chemieindustrie bietet.
Die Chemieindustrie ist eine Industrie mit zahlreichen Sub-Segmenten mit unterschiedlichsten Erfolgsfaktoren, Produkten, Kunden etc. Es wäre der Situation nicht angemessen, diese alle gleich zu betrachten. Für die Zukunft der europäischen Chemieindustrie stechen jedoch sechs Segmente mit spezifischen Stärken und Chancen heraus:
Engineered Plastics wie High-end Polyamide und High-Tech-Plastics wie PEEK und PSU sind nicht nur Stärken der europäischen Industrie, sondern ermöglichen bei den künftigen Materialanforderungen zahlreicher Applikationen wie E-Mobilität und Luft- und Raumfahrt ein nachhaltiges Differenzierungspotential, bei dem die Wettbewerbsstärke voll ausgespielt werden kann.
CAS (Coatings, Adhesives, Sealants)-bezogene Chemikalien und Produkte bieten nicht nur ein breites Feld für Innovationen, sondern sind essentiell für ein Vielzahl hochwertiger Anwendungen in der Luft- und Raumfahrt, der Elektronik und Batterietechnik sowie der Photovoltaik, um nur einige zu nennen. Modernste Harz- und Additivlösungen für multifunktionale Lacke mit gleichzeitig exzellenten Verarbeitungseigenschaften sind nur ein Beispiel.
Advanced Materials wie Verbundwerkstoffe, Katalysatoren und moderne Batteriematerialien sind der Schlüssel, um Zukunftstechnologien wie die Elektromobilität, die Windkraft und viele andere nicht nur technisch realisierbar, sondern auch wirtschaftlich attraktiv zu machen – ein weiteres Feld, in dem die europäische Chemieindustrie ihre Stärke ausspielt.
Knowledge Chemicals wiederum als der Teil der Spezialchemie, der eine starke Kundenorientierung und tiefem Anwendungs- und Formulierungswissen mit zahlreichen Anwendungsfeldern kombiniert, war schon immer einer Stärke Europas. Diese werden ihre Position weiterhin behaupten und für die Wettbewerbsfähigkeit auf Exportmärkten sorgen.
Oft unterschätzt, aber strategisch bedeutsam sind Segmente wie Personal und Home Care Chemicals und Advanced Intermediates, die von der Entwicklung hin zu regionaleren, resilienteren Lieferketten und als stabile, weniger zyklische Märkte profitieren.
Eine solche Aufzählung soll jedoch auch jene Geschäftsfelder erwähnen, die weiter unter Druck geraten. Dazu zählen insbesondere die (nicht vorwärts integrierte) Petrochemie, Massenkunststoffe wie Polyethylen und Polypropylen ohne ausreichende Differenzierung und rohstoff- und energieintensive Produkte wie Stickstoff-Düngemittel.
Die Chemieindustrie wird vom gesellschaftlichen und politischen Wandel und den daraus resultierenden Herausforderungen, wie der zunehmenden Regionalisierung und der Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit, um nur zwei zu nennen, mittel- bis langfristig profitieren.
Geopolitische Spannungen sowie höhere Handelsschranken führen dazu, dass Kunden der Chemie aus Gründen wie Liefersicherheit und Unabhängigkeit von Importen kritischer Güter, wie bei Pharmazeutika und deren Vorprodukten, verstärkt Wert auf regionale Lieferketten legen. Dies führt unweigerlich zu einer Stärkung der regionalen Chemieproduktion. So zitiert der sogenannte „Draghi-Report“, dass von 204 Produkten mit strategischer Abhängigkeit Europas 43 Prozent Chemie-Produkte sind5, und definiert damit das „Field of Action“.
Auch eröffnet die aktuelle geopolitische Lage neue Wachstumschancen. Steigende Verteidigungsbudgets und der Fokus auf technologische Souveränität treiben das Wachstum von sog. „Defence Chemicals“ wie Hochenergiematerialien, Materialien zum persönlichen Schutz und Speziallacken mit Radar-absorbierenden Eigenschaften.
Zu guter Letzt führt die Kreislaufwirtschaft vermehrt zu regionalen Wertkreisläufen zu Lasten globaler Handelsströme von fossilen Rohstoffen und Petrochemikalien. Auch hier wird auf zunehmende Unabhängigkeit (z.B. bei Batterien) immer mehr Wert gelegt, woraus eine lokale Versorgung mit Chemieprodukten folgt.
Ist damit alles bestens? Nein, bei weitem nicht. Die europäische Chemieindustrie steht vor strukturellen, in manchen Bereichen überfälligen Veränderungen, wie man beispielsweise an den angekündigten Schließungen von Naphtha-Steamcrackern oder an den Ankündigungen großer Petrochemie- und Polyolefin-Hersteller, ihr Europa-Geschäft einem strategischen Review zu unterziehen, sieht. Auch die Belastungen durch hohe Energiekosten und zunehmende Regulatorik sind real und – vielleicht am gravierendsten – der zurzeit schwache Inlandsmarkt.
Trotz dieser Herausforderungen stellt die europäische Chemieindustrie einen unverzichtbaren und starken Partner der globalen Wirtschaft dar. Das bedeutet aber auch, dass sie ihre Stärken ständig weiterentwickeln muss – sei es durch die weitere Verbesserung ihrer effizienten Produktionsstruktur, die Stärkung ihrer Innovationskraft und die fortlaufende Förderung ihrer gut ausgebildeten Belegschaft. Durch Investitionen in diese drei Pfeiler kann die europäische Chemieindustrie führende Positionen behaupten und ihre Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene ausbauen. Die genannten Segmente mit ausgewiesenen Stärken und Zukunftschancen stellen dabei einen großen Teil der europäischen Chemieindustrie dar und sind offensiv und selbstbewusst zu entwickeln.
1 CEFIC (2025); 2024 Facts And Figures Of The European Chemical Industry, zuletzt abgerufen am 24.03.2025
2 Antwerp Declaration (2024); The Antwerp Declaration for a European Industrial Deal, zuletzt abgerufen am 24.03.2025
3 European Patent Office (2025); European chemical patent applications, zuletzt abgerufen am 18.03.2025
4 S&P Capital IQ (2025); Chemical transactions near past, zuletzt abgerufen am 18.03.2025
5 European Commission: The future of European Competitiveness, zuletzt abgerufen am 24.03.2025
Dr. Alexander Keller (Specialist Director, European Chemicals team)
Sebastian Gronwald (Manager, European Chemicals team)
Die Deloitte Industry Briefings analysieren Themen, die die Branchen bewegen, um kurzfristig und agil auf aktuelle Markentwicklungen und Branchenthemen reagieren zu können.