Das Krankenhausinformationssystem (KIS) ist heute der zentrale Knotenpunkt der Krankenhaus-IT und entsprechend wichtig für alle Krankenhäuser im operativen Geschäft (siehe Abbildung 1) sowie als kritischer Baustein der digitalen Transformation im Krankenhaus. Viele Kliniken stehen in den nächsten Monaten und Jahren vor der Entscheidung, mit welchem KIS-Hersteller sie die digitale Transformation ihrer Häuser weiter vorantreiben wollen. Exemplarisch sei hier nur die anstehende KIS-Ausschreibung der Charité als Europas größtem Universitätsklinikum genannt.1
Trotz der Bedeutung für die Krankenhäuser ein medial sonst eher nicht im Vordergrund stehendes Thema hat der deutsche Bundesgesundheitsminister mit seinen aktuellen Äußerungen bezüglich der KIS diesem Thema eine neue Brisanz verliehen:
„Das deutsche Gesundheitssystem könnte in Versorgung und auch Forschung deutlich besser sein, wenn es eine gelungene Digitalisierung gäbe."2
Diese Ansicht von Bundesminister Prof. Dr. Karl Lauterbach ist nicht grundsätzlich neu. Spannend ist aber, dass Bundesminister Lauterbach in seiner Rede unter anderem auch auf die heutigen Krankenhausinformationssysteme (KIS) eingeht: „[...] KIS sollen miteinander kommunizieren können [...] (wir) brauchen interoperable KIS [...] KIS (und) die ePA (elektronische Patientenakte) das muss miteinander kommunizieren können[...].“3
Hier werden also verschiedene Anforderungen an ein modernes KIS formuliert, die heutige KIS so nicht in allen Dimensionen abbilden.
Warum stehen Krankenhausinformationssyteme (KIS) aktuell im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte?
Um die aktuell geäußerte Kritik einzuordnen, lohnt sich ein kurzer Blick zurück.
In den Anfängen noch eher Tools zur Datensammlung, Abrechnung und Dokumentation, entwickelten sich die KIS bis heute weiter zu hoch-komplexen IT-Systemen, welche mittels eines ganzheitlichen Ansatzes der Abbildung von Geschäftsprozessen und Unterstützung zur Erhebung von Prozess- und Ergebnisdaten im Krankenhaus mit einem Informationssystem.
KIS als zentraler Knotenpunkt der Krankenhäuser IT
Abbildung 1: Vereinfachte schematische Darstellung der Krankenhaus-IT
Heutige KIS sind daher meist monolithische Komplettlösungen - das bedeutet, dass möglichst viele Funktionen als Gesamtpaket den Kliniken angeboten und verkauft werden. Die Anbindung von Drittanwendungen ist grundsätzlich möglich, es müssen jedoch immer Aufwand und Kosten mit dem entsprechendem Nutzen abgeglichen werden.
Die KIS-Hersteller sehen sich aktuell mit neuen Anforderungen konfrontiert, die in Summe den Eindruck erwecken können, dass heutige KIS nicht zukunftsfähig sind
Im Folgenden beleuchten wir einige dieser neuen Anforderungen näher, wobei es zwischen diesen durchaus vielfältige Abhängigkeiten gibt:
1. Das Krankenhaus wird digitaler und stärker Patienten-zentriert
Aus dem Konsumgüter-Markt kennen wir den Begriff „Customer Journey“, mit dem Bestreben, dass jede Interaktion mit dem Kunden für Diesen zu einem positiven Einkaufs-Erlebnis führen soll. Daran angelehnt ist der Begriff der „Patient Journey“, der dem Patienten von ambulanter Erstdiagnose über den stationären Aufenthalt bis zur Nachbehandlung/ Reha ein ganzheitliches, positives und effizientes Erlebnis bieten soll.
Aus Umfragen wissen wir, dass Patienten und Krankenhauspersonal das KIS für wenig geeignet halten, um den Patienten aktiv in die Ablaufplanung einer Behandlung einzubinden.4 Dies gilt für den eigentlichen stationären Aufenthalt, aber umso mehr auch für die vor- und nachgelagerten Behandlungsschritte.
KIS-Hersteller dürfen davon ausgehen, dass die Kliniken in Zukunft das KIS nicht primär als administrative Unterstützung einsetzen. Vielmehr erwarten die Kliniken, dass die Patient Journey im KIS abgebildet und dokumentiert werden kann, mit definierten Interaktions- und Kommunikationsschnittstellen an bestimmten Interventionspunkten entlang des Behandlungspfades.
2. Die Vielzahl an neuen digitalen Akteuren und Produkten im Krankenhaus verändert die Rolle des KIS in der Krankenhaus-IT
Die Digitalisierung des Gesundheitssystems ist ein zentraler Bestandteil der politischen Agenda der vorherigen und der aktuellen Bundesregierung Die Digitalisierung im Krankenhaus wird dabei im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) mit einem Fördervolumen von insgesamt €4,3 Milliarden vorangetrieben.
Zwei zentrale Anforderungen für wesentliche KHZG Förder-Projekte sind Interoperabilität und IT-Sicherheit. Die Ausgestaltung des KHZG nach Fördertatbeständen verstärkt die Heterogenität der IT-Landschaft im Krankenhaus und stellt hohe Anforderungen an KIS im Sinne von offenen Schnittstellen, Standard-Protokollen (z.B. HL7 FHIR, HL7 v2) und Semantik (z.B. SNOMED CT, LOINC). Auch der Datenaustausch mit der ePA, muss in zukünftigen KIS sichergestellt werden, wie in der BMG-Digitalisierungsstrategie nochmal explizit dargelegt wird.
Perspektivisch kann es für einige große Kliniken und Klinikverbünde sogar sinnvoll sein, die Daten von den Prozessen zu trennen und dem KIS über standardisierte Schnittstellen zur Verfügung zu stellen. Dies würde z.B. die KI-gestützte Auswertung von Daten vereinfachen sowie eine bessere Einbindung von zusätzlichen Anwendungen außerhalb des KIS ermöglichen.
Abbildung 2: Vereinfachte schematische Gegenüberstellung von „Best-of-Breed“ und „Best-of-Flex“ Krankenhaus-IT Architekturen
KIS-Hersteller stehen vor der Herausforderung Produkte zu entwickeln, die für unterschiedlichen Digitalisierung-Strategien einen klar ersichtlichen Mehrwert bieten. Standardisierte Schnittstellen und Protokolle sind in jeder Digitalisierungsstrategie zwingend vorausgesetzt und werden zum mitentscheidenden Faktor bei der Lieferanten-Auswahl.
3. Der Gesetzgeber stellt die Verzahnung von allen Akteuren im Gesundheitswesen über die elektronische Gesundheitsakte (ePA), die Telematik-Infrastruktur und Messenger-Dienste (TI-M) in den Mittelpunkt der Digitalstrategie
Die elektronische Gesundheitsakte (ePA), die Telematik-Infrastruktur (TI) und Messenger-Dienste (TI-M) sollen in Zukunft dafür sorgen, dass alle Informationen zentral gespeichert und abrufbar sind (ePA) sowie ohne Medienbrüche und in Echtzeit zwischen allen Akteuren im Gesundheitswesen ausgetauscht werden können (Telematik-Infrastruktur und Messenger-Dienste). In der kürzlich vom BMG vorgestellten Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege formuliert der Gesetzgeber den Anspruch, Standards für die Interoperabilität und Mobilität von Gesundheitsdaten zu entwickeln und Interoperabilität verpflichtend zu machen. Die ePA-Nutzung durch Patienten soll durch das neue Opt-out-Verfahren von derzeit 1 Prozent auf 80 Prozent bis 2025 ansteigen.5
Für KIS-Hersteller bedeutet dies, dass in Zukunft auch im stationären Bereich die ePA als zentraler Datenspeicher eine immer größere Rolle spielen wird. Daraus resultierend wird es für KIS zwingend erforderlich sein, mit der ePA in beide Richtungen Daten austauschen zu können. Auch wird die Einbindung sicherer Kommunikation zwischen den Akteuren entlang des Behandlungspfades in das KIS (auch und gerade im Kontext einer Unterstützung der Patienten-Journey) notwendig sein. Interoperabilität wird auch für KIS in Zukunft gesetzlich verpflichtend sein.
4. Cloud-basierte Anwendungen unter Berücksichtigung der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)
Im Vergleich zu anderen Bereichen sind Cloud-basierte Anwendungen im Gesundheitssystem derzeit wenig zu beobachten. Hierfür wird als Argument häufig der besondere Schutz von Gesundheits-Daten angeführt, wie er unter anderem in der DSGVO gesetzlich geregelt ist.
Mit dem KHZG-Fördertatbestand 7: Leistungsabstimmung und Cloud-Computing-Systeme (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 KHSFV) hat der Gesetzgeber aber aufgezeigt, dass eine Nutzung der Cloud im Gesundheitssystem erwünscht ist und sogar gefördert wird. Der Gesetzgeber formuliert dies folgendermaßen:
Leistungsabstimmung und Cloud-Computing-Systeme müssen:
Leistungsabstimmung und Cloud-Computing-Systeme können:
Im Kontext der aktuell diskutierten Krankenhausreform darf davon ausgegangen werden, dass der Aspekt „Abstimmung von Versorgungsleistungen“ in Zukunft deutlich an Bedeutung gewinnen wird. Die Krankenhausreform sieht im Kern vor, dass nicht mehr alle Krankenhäuser alle Leistungen anbieten dürfen (Stichworte: Behandlungs-Qualität, Wirtschaftlichkeit). Daraus resultiert eine stärkere Konzentration von Leistungen auf ausgewählte Standorte, was die Notwendigkeit zur Abstimmung der Leistungserbringer untereinander entlang der Patient Journey erhöhen wird.
Gerade in Klinikverbünden und angeschlossenen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) kann eine Cloud-fähige Lösung sowohl für die Behandlungsqualität als auch unter Wirtschaftlichkeits-Gesichtspunkten durchaus sinnvoll sein.7
Für KIS-Hersteller bedeutet dies, zukünftige Produkte so zu entwickeln, dass sie Cloud-fähig sind und den Datenaustausch zwischen den Leistungserbringern über Standard-Schnittstellen ermöglichen.
Fazit: Ist die geäußerte Kritik also berechtigt?
Dazu ein klares jein. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass einige der in Zukunft elementar wichtigen Anforderungen an ein modernen KIS in den aktuell vertriebenen Produkten/ Versionen nicht abgebildet sind. Allerdings sind die Produktzyklen im KIS-Markt traditionell eher lang und ein Anbieterwechsel nach Vertragsende nicht unkompliziert.
Der Wechsel eines KIS-Systems ist aufgrund der Komplexität dieser Lösungen für jedes Krankenhaus ein herausforderndes Transformationsprojekt.
Ibo Teuber, Partner | Health Care
Der KIS-Markt verändert sich zudem gerade in vielfältiger Art und Weise. Etablierte und neue Wettbewerber positionieren sich, Technologien laufen aus, werden modernisiert oder gänzlich neu entwickelt:
Aktuelle Marktbeobachtungen
Abbildung 3: Übersicht über aktuelle Veränderungen im KIS-Markt
Auf der anderen Seite ist es auch nicht so, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen in anderen Bereichen optimal verläuft, die Einführung von ePA, TI und eRezept seien hier nur beispielhaft genannt. Durch die schon vorher beschriebenen Abhängigkeiten ist es für KIS-Hersteller nicht trivial, in der digitalen Transformation eine Führungsrolle einzunehmen.
In einem Umfeld, dass diese Modernisierung nicht nur erwartet, sondern zunehmend lautstark einfordert, werden sich diejenigen Hersteller gut positionieren, die verstanden haben, wie sich die Rolle des KIS in Zukunft verändern wird, und den sich daraus ableitenden, neuen Anforderungen mit den KIS-Produkten der nächsten Generation Rechnung tragen.
1 Lukas Hoffmann, „Charité Berlin wechselt Betriebssystem“, Handelsblatt, abgerufen am 06.03.2023)
2, 3 Bundesminister Karl Lauterbach, Rede auf der Digital-Konferenz „Europe 2023“, YouTube, abgerufen am 06.03.2023
4 Sebastian Krolop und Gerrit Schick, „Krankenhausinformationssysteme in Deutschland“, Deloitte/ Philips Studie, abgerufen am 06.03.2023
5 BMG, „Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege“, abgerufen am 16.03.2023
6, 7 Bundesamt für Soziale Sicherung, „Richtlinie zur Förderung von Vorhaben der Prozesse und Strukturen im Verlauf eines Krankenhausaufenthaltes von Patientinnen und Patienten nach $21 Absatz 2 KHSFV“, abgerufen am 06.03.2023
8 Helge Sanden, „SAP kündigt Branchenlösung IS-H für Krankenhäuser Ende 2030 ab“, it-onlinemagazin, abgerufen am 06.03.2023
9 Lukas Hoffmann, „i.s.h. med; Oracle/Cerner entwickelt neues KIS mit Cloud“, Handelsblatt, abgerufen am 06.03.2023
10 Philipp Grätzel, „Digitales Gesundheitswesen: „Weitestgehend nicht da““, ehealth.com, abgerufen am 06.03.2023
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