Getrieben von bahnbrechenden Erfindungen wurde ein breites Portfolio unterschiedlichster Halbleiter entwickelt, die vielfältige Bedarfe abdecken. Die Diversifizierung schafft Raum für Spezialisierung und neue Geschäftsmodelle. Viele Kunden der Halbleiterindustrie treten derzeit selbst in die Industrie ein und nutzen sogenannte Foundries zur Auftragsfertigung. Gleichzeitig bauen etablierte Unternehmen ihre Produktionskapazitäten aus. Die Nachfrage ist dynamisch und schwer vorhersagbar - im Zusammenhang mit komplexen Produktionsprozessen und vielfältigen Material- und Komponentenzulieferern entsteht eine schwer zu beherrschende Wettbewerbslandschaft, die bereits per se zu Instabilitäten neigt. Zusätzlich ist die Chip-Industrie den Verwerfungen der globalen Lieferketten ausgesetzt, insbesondere nach der COVID-19 Pandemie und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine, sowie dem globalen politischen Spannungsfeld, in dem sie zunehmend eine strategische Rolle spielt.
Halbleiter stellen ein gewaltiges Geschäft dar: Im Jahr 2022 wird die weltweite Chipindustrie voraussichtlich einen Umsatz von 633 Milliarden US-Dollar erreichen, ein Anstieg um 55 Prozent gegenüber 2019[1]. Bis 2030 könnte die Branche einen Umsatz von 1 Billion US-Dollar erreichen, was einem jährlichen Wachstum von etwa sechs Prozent entspricht[2].
Derzeit ist die Herstellung von Chips stark auf den ostasiatischen Raum konzentriert. Im Jahr 2020 wurden 73 Prozent aller Chips in China, Japan, Südkorea und Taiwan produziert[3]. Außerdem entfielen 81 Prozent der Produktion von Halbleiterchips durch sogenannte Foundries – Fertigungsbetriebe, die den intelligenten Kern von Chips für andere Halbleiterunternehmen herstellen – auf nur zwei Länder: Südkorea und Taiwan. Der Anteil Taiwans an der weltweiten Foundry-Kapazität betrug 2020 bereits 63 Prozent[4]. Während die globale Wirtschaft dies zunehmend als Sicherheitsrisiko einstuft, ist für Taiwan die Dominanz in der Halbleiterindustrie ein wichtiges Unterpfand der eigenen Sicherheit. Denn ein Angriff auf Taiwan brächte die hochsensible Produktion zum Erliegen, mit dramatischen Konsequenzen auch für den Aggressor.
Die derzeitige Chip-Knappheit verdeutlicht, wie abhängig Europa von globalen Zulieferern ist. Dabei verbraucht die EU doppelt so viele Chips, wie sie selbst herstellt. Allerdings waren die Investitionen in diesem Bereich bisher überschaubar: In den Jahren 2020 und 2021 beliefen sich die europäischen Ausgaben für die Chip-Herstellung auf lediglich 3,7 Prozent bzw. 3,2 Prozent der weltweiten Gesamtausgaben[5].
Es ist daher nicht überraschend, dass die aktuellen Engpässe weitreichende Auswirkungen auf den europäischen Technologie-, Verkehrs- oder Gesundheitssektor haben. Allein die Automobilindustrie verzeichnete aufgrund der Halbleiterknappheit einen geschätzten globalen Umsatzrückgang von 210 Milliarden US-Dollar (2021)[6]. Zudem wurden in der EU nur 9,7 Millionen Neuwagen verkauft (2021), ein Rekordtief seit 1990 und 3,3 Millionen Neuwagen weniger als im Jahr 2019[7].
Die EU muss sich mit vier kritischen Fragen auseinandersetzen:
Vor dem Hintergrund der geostrategischen Produktionslücke hat sich die EU das ehrgeizige Ziel gesetzt, ihren Anteil an den weltweiten Produktionskapazitäten von zehn Prozent (2021) auf 20 Prozent (2030) zu verdoppeln[8]. Da die weltweite Chipindustrie bis 2030 voraussichtlich ebenfalls um das Doppelte wachsen wird, müsste die EU ihre Chipproduktion vervierfachen, um dieses Ziel zu erreichen. Der EU Chips Act schafft dafür günstigere Voraussetzungen. Geld allein, wie durch den Chips Act bereitgestellt, wird die strategischen Fragestellungen jedoch nicht lösen. Auch Themen wie das zunehmend komplexe Genehmigungswesen, die Ausbildung und Attraktivität von STEM Studiengängen, und die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland sind zu berücksichtigen.
Als Orientierungshilfe für Unternehmen, Investoren, Regierungen und Regulierungsbehörden hat Deloitte vier Szenarien für Europa entwickelt, die erstmals im Report „The Future of the Tech Sector in Europe“ veröffentlicht wurden. Die einzelnen Szenarien umfassen Aspekte der Entwicklung der europäischen Technologieindustrie, die zusammengeführt und gegenübergestellt werden.
Das erste Szenario fokussiert sich auf die Möglichkeit, dass ein Halbleiterunternehmen mit Hauptsitz in Europa den Halbleitermarkt dominiert. Dieses Szenario ist möglich und trifft am ehesten auf Unternehmen zu, die bereits seit Jahrzehnten auf dem europäischen Markt vertreten sind. In der derzeitigen Marktverteilung erscheint dieses Szenario für die Halbleiterproduktion aber unwahrscheinlich. Es gibt jedoch bereits europäische Champions unter den Zulieferbetrieben: ASML Holding N.V. wird aus Europa geführt und hat sich als weltweit größter und technologisch mit Abstand führender Anbieter von Lithografiesystemen für die Halbleiterindustrie positioniert. Gleichermaßen hat das britische Unternehmen ARM sich zu einem weltweit führenden Eigner von Intellectual Property im Bereich Prozessortechnologie entwickelt, das bahnbrechenden Innovationen für viele Mobilfunkgeräte und Laptops ermöglicht hat. Damit hat Europa Global Champions sowohl für das Produktions- als auch das Designsegment der Chipindustrie hervorgebracht. In der Produktion ist derzeit ein anderer nationaler Champion, nämlich TSMC in Taiwan, führend. Auch TSMC bedarf aber unabdingbar der führenden europäischen Marktteilnehmer für den Geschäftserfolg.
Im zweiten Szenario wird ein Europa beschrieben, in dem nur wenige Länder Spitzenleistungen hinsichtlich einer lokalen Chipproduktion erbringen. Dieses Szenario zeichnet eine positive Entwicklung der aktuellen Verhältnisse in Europa weiter. Relevante europäische Unternehmen sind z.B. NXP Semiconductors, STMicroelectronics N.V. und die Infineon Technologies AG. Gemeinsam mit den von der EU durch den Chips Act geförderten Direktinvestitionen – durch z.B. Intel, aber auch TSMC und GlobalFoundries, sowie von neu in den Markt eintretenden Unternehmen wie z.B. Bosch – ist dies ein Szenario, das den Halbleiterproduktionsmarkt in einer positiven Entwicklung sehr gut beschreibt und in den europäischen Kontext verteilter Innovation und Produktion einbettet. Diverse Unternehmen sind bestens aufgestellt, um die verschiedenen Segmente der Chipindustrie abzudecken, von der Steuerung für Automatik-Getriebe über die Leistungselektronik für Elektro-Autos bis hin zur hochkomplexen Signalverarbeitung in Mobilfunktelefonen, Computern, Rechenzentren und Consumer-Geräten. Wie auch in anderen globalen Regionen fördert die Spezialisierung die Konzentration dieser Entwicklung auf wenige Länder, dennoch wird Europa durch die EU-Freihandelszonen, Mobilität von Arbeitskräften und die politische Konvergenz der Systeme in diesem Szenario gesamthaft gestärkt. Diversität der Produktion wird auch zunehmend in die Produktion von Chips integriert: Verschiedene „Chiplet“-Produzenten produzieren Teile eines integrierten Chips, der erst in der finalen Integration zusammengesetzt wird; dies wird zum Beispiel im Mobilfunk schon heute eingesetzt, um verschiedene Halbleitertechnologien optimal zu kombinieren.
Im dritten Szenario stellen europäische Unternehmen wichtige Käufer und Nutzer von Technologien dar, die außerhalb Europas hergestellt werden. Dies ist das Negativszenario der zukünftigen Halbleiterproduktion. Europa ist heute ein Nettoimporteur von Halbleitern: Etwa 20 Prozent des weltweiten Chipangebots wird von Europa verbraucht, aber nur etwa neun Prozent der Chips werden in Europa hergestellt[9]. Angesichts der wachsenden Nachfrage in der Halbleiterindustrie und des Zeitraums, in dem neue Fabriken gebaut werden können, könnte Europa bis 2030 Nettoimporteuer von Chips bleiben – trotz der vereinbarten Zielsetzung im Europäischen Chip-Gesetz. In diesem Szenario fällt Europa aus mehreren Gründen zurück. Zum einen wird die Verzahnung von Halbleiter-Innovation und Kundennutzung nicht mehr in europäische Wertschöpfung übersetzt und begrenzt die Innovationskraft der europäischen Industrie als Ganzes. Zum anderen entstehen durch die externe Abhängigkeit unwägbare Risiken sowohl in politisch-strategisch Hinsicht als auch in Bezug auf die Lieferketten.
Im letzten Szenario herrscht ein geringes Technologieangebot vor und die Nutzung der Halbleitertechnologie ist aufgrund regulatorischer Vorgaben weiter eingeschränkt. Dieses Szenario trifft derzeit nirgendwo in Europa zu und es ist unwahrscheinlich, dass es sich ab 2030 einstellen wird, insbesondere weil sich alle Parteien der strategischen Bedeutung von Chips bewusst sind. Außerdem sind vonseiten der europäischen Regulierungsbehörden keine strengeren Regulierungsmaßnahmen für Chips oder die Herstellung von Chips vorgesehen. Wenn überhaupt, ist mit einer Deregulierung und Förderung des Kernsektors zu rechnen. Im Arbeits-, Umwelt-, und Genehmigungsrecht steht Europa im globalen Wettbewerb – die Komplexität der Gesetzgebung in diesen Bereichen ist natürlich gegen die relative Sicherung der Lebensqualität abzuwägen.
Aus den vier skizzierten Szenarien können wichtige Schlüsse für die europäische Halbleiterindustrie gezogen werden:
Lesen Sie hier den vollständigen Artikel „A new dawn for European chips“ auf Deloitte Insights und erfahren Sie mehr zu den gegenwärtigen geopolitischen Risiken für die Chipindustrie, zum Europäischen Chip-Gesetz, zu neuen Halbleitermaterialien und Herstellungsverfahren, zum Thema ESG in der Halbleiterindustrie sowie zur Zukunft der Chipproduktion.
[1] Semiconductor Industry Association (2020): Worldwide Semiconductor Sales Decrease 12 Percent to $412 Billion in 2019, https://www.semiconductors.org/worldwide-semiconductor-sales-decrease-12-percent-to-412-billion-in-2019/, 14.11.2022.
[2] Hall, Michael (2022): ISS 2022. Semiconductor Industry Market Outlook and Prospects for Reaching $1 Trillion by 2030, https://www.semi.org/en/blogs/business-markets/iss-2022-semiconductor-industry-outlook-and-prospects-for-reaching-%241-trillion-by-2030, 14.11.2022.
[3] Richard, Chris et al. (2021): Five fixes for the semiconductor chip shortage, in: Deloitte Insights 12/2021, https://www2.deloitte.com/us/en/insights/industry/technology/semiconductor-supply-chain-solutions.html, 08.11.2022.
[4] Lee, Yen Nee (2021): 2 charts show how much the world depends on Taiwan for semiconductors, https://www.cnbc.com/2021/03/16/2-charts-show-how-much-the-world-depends-on-taiwan-for-semiconductors.html, 08.11.2022.
[5] Patel, Dylan (2022): Why America Will Lose Semiconductors, in: SemiAnalysis 06/2022, https://www.semianalysis.com/p/why-america-will-lose-semiconductors, 14.11.2022.
[6] Jin, Hyunjoo (2022): Automakers, chip firms differ on when semiconductor shortage will abate, https://www.reuters.com/business/autos-transportation/automakers-chip-firms-differ-when-semiconductor-shortage-will-abate-2022-02-04/, 14.11.2022.
[7] France24 (2022): Computer chip shortage pushes European car sales to record low, https://www.france24.com/en/business/20220118-computer-chip-shortage-pushes-european-car-sales-to-record-low, 14.11.2022.
[8] Europäische Kommission (2022): European Chips Act, https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/europe-fit-digital-age/european-chips-act_en, 08.11.2022.
[9] Europäische Kommission (2022): Statement by President von der Leyen on the European Chips Act, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/statement_22_866, 09.11.2022.