Die Verwaltung und der Sozialstaat in Deutschland stehen vor großen Herausforderungen – der demographische Wandel und die digitale Transformation erhöhen den Druck auf Fortschritte in der Digitalisierung und Automatisierung. Gleichzeitig steigt die Erwartungshaltung der Bürger hinsichtlich zugänglicher und vorsorgender Dienstleistungen. Eine Ausrichtung der Verwaltungsdienstleistungen auf Lebensereignisse sowie ein nutzerzentrierter Ansatz sind von zentraler Bedeutung, um die Leistungsfähigkeit der Verwaltung zu erhöhen.
Der demografische Wandel führt zu Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung, während die digitale Transformation Veränderungen in den Arbeitsinhalten und Beschäftigungsformen mit sich bringt. Die Träger der sozialen Sicherung und die Verwaltung müssen sich mit dem Rückgang an qualifizierten Fachkräften, steigenden Kosten und abzeichnenden Defiziten in der Leistungsfähigkeit auseinandersetzen. Somit steigt stetig der Druck, Fortschritte in der Digitalisierung und Automatisierung zu erzielen.
Neben der grundsätzlichen Digitalisierung in der Verwaltung rückt vor allem die nutzerzentrierte Ausrichtung der Verwaltungsdienstleistungen sowie das Denken in Lebensereignissen in den Fokus. Das Lebensereignismodell basiert auf den Prinzipien des nutzerzentrierten Designs, des agilen Bereitstellungsansatzes und der einmaligen Erfassung (Once-only). Es strebt an, die Dienstleistungen an den Bedürfnissen der Bürger auszurichten und eine ganzheitliche digitale Leistungserbringung zu ermöglichen. Insbesondere die herkömmliche Organisationsstruktur der Verwaltung erschweren jedoch die Implementierung und komplexe Governance-Strukturen führen zu Verzögerungen in der Umsetzung.
Die Kernbegriffe der Modernisierung sind Digitalisierung und Nutzerzentriertheit. Die deutsche Bundesregierung betont in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 und ihrer Digitalstrategie von 2022 die Bedeutung der digitalen Nutzerzentriertheit bei der Verwaltungsmodernisierung und Digitalpolitik. Das Ziel ist es, die Verwaltung in Zusammenarbeit mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft an die Bedürfnisse der Bevölkerung anzupassen, indem antragslose, automatisierte, handhabbare und zeitgemäße digitale Verfahren flächendeckend eingeführt werden, ohne Medienbrüche zu verursachen. Das Onlinezugangsgesetz (OZG) wird weiterentwickelt und erhält ausreichende Finanzierung, um eine klare Standardisierung und Vereinheitlichung von IT-Verfahren zu unterstützen.
Auf europäischer Ebene wurde mit der Single-Digital-Gateway-Verordnung (SDG) von 2018 ebenfalls ein Schritt in Richtung Verwaltungsdigitalisierung unternommen. Die Bundesregierung plant umfangreiche Digitalprogramme mit einer Investition von über 3 Milliarden Euro, um die politischen Grundlagen und Ziele umzusetzen. Neben dem OZG werden zusätzliche Mittel für die Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen, Registermodernisierung, digitale Identitäten und ein zentrales Portal des Bundes bereitgestellt.
Die öffentliche Verwaltung befindet sich in einer nicht einfach zu beherrschenden Situation, in der eine Vielzahl digitaler Vorhaben in wiederkehrender Art und Weise angegangen werden. Beobachter äußern Kritik an der oftmals mangelnden Wirksamkeit von Optimierungen, die eben keinen grundlegenden Wandel realisierten, sondern überkommene analogen Denkweisen in die digitale Welt übertrugen – unter Beibehaltung limitierender Strukturen, Prozesse und Kommunikationswege. Viele Vorhaben könnten starken Zusatznutzen erzielen, wenn sie stärker ein grundlegendes Überdenken der Prozesse realisieren würden, im Rahmen einer tiefgreifenden digitalen Transformation hin zur Bereitstellung von nutzerzentrierten Verwaltungsdienstleistungen.
Die Umsetzung der Digitalisierung in der deutschen Verwaltung erfolgt hierbei in drei Kategorien: Elektronifizierung, Digitalisierung und Transformation. Während die Elektronifizierung die Überführung analoger Daten in digitale Formate umfasst, beinhaltet die Digitalisierung die Anpassung von Abläufen und Prozessen. Die Transformation umfasst einen institutionellen Umbau der Verwaltung und erfordert organisatorische, kulturelle und strukturelle Veränderungen.
Das Lebensereignismodell bietet einen Ansatz, bei dem die Leistungen der Verwaltung vollständig an den Bedürfnissen der Zielgruppen und ihren Lebenslagen ausgerichtet werden. Dabei kombiniert das Modell die drei Grundsatz-Design-Prinzipien: nutzerzentriertes Design, übergreifender agiler Bereitstellungsansatz und einmalige Erfassung.
Die Europäische Kommission fördert diesen Ansatz durch die Implementierung eines technischen Systems, das den automatisierten Austausch von Nachweisen zwischen den Behörden der Mitgliedsstaaten ermöglicht. Die Umsetzung der einmaligen Erfassung erfolgte bisher hauptsächlich auf nationaler Ebene, während die grenzüberschreitende Implementierung noch begrenzt ist. Es besteht jedoch die Dringlichkeit, nahtlose und kanalübergreifende Strategien anzuwenden, da die EU-Mitgliedsstaaten nur bis November 2023 Zeit haben, den Grundsatz der einmaligen Erfassung umzusetzen.
Zusätzlich zeigt unserer Deloitte Digital Citizen Survey von 2023 auch, dass mehr als ein Drittel der Bürger in Deutschland bereit sind und es sich wünschen, hier im Rahmen wichtiger Lebensereignisse auch Daten mit der Verwaltung im Gegenzug zu einer digitalen und effizienten Leistungserbringung zu teilen. Die Präferenz der Deutschen ist hierbei besonders hoch bei den Themen Geburt und Rente, welche im Rahmen der Digitalisierungsvorhaben in Deutschland priorisiert wurden und auch im Angebot der digitalen Sozialdienstleistungen fortgeschritten sind.
Für eine nutzerorientierte Dienstleistungserbringung bei Lebensereignissen ist ein nahtloser und sicherer Datenaustausch von großer Bedeutung. Bisher erschweren abgegrenzte Systeme, Medienbrüche und fehlende Datenstandards die Zusammenarbeit und die gemeinsame Nutzung von Daten. Die Einführung von integrierten Datenverwaltungssystemen nach dem "Once Only"-Prinzip ermöglicht eine einmalige Erfassung der Daten für mehrere Dienstleistungen. Dies erfordert eine enge Verzahnung und Integration neuer Technologien sowohl nach außen gerichteter Verwaltungsleistungen als auch der nach innen gerichteten Verwaltungstätigkeiten.
Dazu zählen auch eine nahtlose gemeinsame Nutzung von Daten, höchster Datenschutz und Sicherheit sowie klare Rollen und Ziele für eine ressortübergreifende Verwaltung.
Für die Stärkung der Zusammenarbeit und den Fokus auf Nutzerzentrierung bedarf es zudem ein Umdenken in den Führungs- und Verwaltungsstrukturen. Ergänzend sind die langfristige Planung und kontinuierliche Finanzierung entscheidend, um einen Wandel hin zu nutzerzentrierten, digitalen und an Lebensereignissen orientierten Dienstleistungen zu unterstützen.
Ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Transformation ist darüber hinaus das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Verwaltung. Das Vertrauen wird gestärkt durch erfolgreiche nutzerzentrierte Interaktionen und positive Erlebnisse im Verwaltungskontext. Ein Hebel zur kontinuierlichen Steigerung der Vertrauenswürdigkeit ist dabei die Ausrichtung der Dienstleistungen in den Behörden auf Lebensereignisse. Gesetzliche Rahmenbedingungen und Strukturen zur Schaffung nachhaltiger, digitaler Strukturen und ein föderaler Strukturwandel in der Verfassung sind erforderlich, um diese neuen Ansätze für die Leistungserbringung sowie einen Kulturwandel in der Verwaltung zu ermöglichen.
Die Herausforderungen und die Notwendigkeit eines digitalen Umdenkens der Träger und Verwaltungen ist demnach groß. Es müssen nicht nur die Prozesse und Leistungserbringung digitalisiert werden, sondern gleichzeitig stehen die Verwaltungen und Träger vor strukturellen und kulturellen Veränderungen. Eine ganzheitliche Betrachtung von Mensch, Organisation und Technik ist somit von zentraler Bedeutung, denn nur damit ist eine nutzerzentrierte Dienstleistungserbringungen entlang von Lebensereignissen möglich.
Steven Janiec
Director | Government & Public Services
Christian von Pawel
Director | Government & Public Services
Alexander D. M. Swagemarkers
Manager | Customer & Marketing
Rebecca Gaab
Consultant | Customer & Marketing