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Retail Industry Briefing

Temu – Neue Konkurrenz für Non-Food-Retailer

In einer sich stetig verändernden Einzelhandelslandschaft sehen sich Einzelhändler mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert: Viele davon sind wirtschaftlicher und technologischer Art, zunehmend werden aber auch ökologische, soziale, regulatorische und geopolitische Themen relevant. Eine der jüngsten Herausforderungen ist der Aufstieg chinesischer Online-Marktplätze wie Temu. Seit der Markteinführung in Europa im Frühjahr 2023 hat sich Temu zu einem ernsthaften Konkurrenten für die bestehenden Retailer entwickelt. 

Wir schauen für digitale Innovationen immer noch zu viel in die USA und zu wenig nach China. Deshalb sind wir dann von neuen Playern wie Shein und Temu so überrascht.

Björn Ognibeni, Practical Visionary & Digital China-Experte 

 

Auch wenn es in der Presse viele kritische Stimmen gibt, wie zuletzt von Verbraucherschutz-Staatssekretärin Christiane Rohleder, die Temu manipulative Kaufanreize und damit einen Verstoß gegen den Digital Services Act der EU vorwirft [1], oder zuvor von der Verbraucherzentrale, die vor schlechter Warenqualität und Sicherheitsmängeln warnt [2], wird Temu von den Verbrauchern [3] angenommen.

In Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich zählt Temu mittlerweile zu den fünf größten E-Commerce-Händlern [4]; zwischen elf und 15 Millionen Unique Visitors pro Monat werden hier erreicht – und das nur wenige Monate nach dem Start in Europa. [5] Vereinfacht dargestellt ist das Geschäftsmodell schnell erklärt: niedrige Produktpreise und Gamification-Elemente, unterstützt durch Social Media. [6]

Damit hat Temu eine Lawine von Veränderungen losgetreten, die sich auf zahlreiche Branchen auswirkt. Mit Produktbereichen rund um Bekleidung und Accessoires, Haushalt, Gesundheit und Körperpflege, Sport und Spielwaren bedient Temu insbesondere den Non-Food-Bereich. Unser aktuelles Retail Industry Briefing untersucht daher, wie Non-Food-Retailer durch Online-Marktplätze wie Temu unter Druck geraten und mit welchen Strategien Händler kurz- und langfristig darauf reagieren können.

Basis für die folgenden Ergebnisse ist eine aktuelle Deloitte-Umfrage unter 83 europäischen C-Level-Führungskräften und Executives aus der Non-Food-Branche. Die Daten wurden im Rahmen des Deloitte Global Retail Outlook 2024 erhoben, für den im November und Dezember 2023 weltweit Einzelhändler zu aktuellen Themen, Herausforderungen und Chancen befragt wurden. Die themenspezifische Auswertung zeigt: Insbesondere vier große Bereiche des europäischen Non-Food-Einzelhandels werden von Temu gezielt adressiert und in seinem Geschäftsmodell berücksichtigt, das offensichtlich perfekt in die aktuelle Zeit passt (s. Abb. 1): 

  • Preissensibilität der Verbraucher
  • Allgemein steigende Geschäftskosten
  • Niedrige Adaptionsgeschwindigkeit  
  • Social Commerce

Abb. 1 – Zentrale Bausteine des Geschäftsmodells von Temu (innen) greifen aktuelle Her-ausforderungen des Einzelhandels (außen) auf

Quelle: Deloitte-Analyse

Hohe Preissensibilität trifft auf niedrige Preise

 

Verbraucher in ganz Europa haben in den letzten Jahren bewiesen, dass sie finanziellen Herausforderungen widerstandsfähig begegnen können. In den letzten Monaten deuten die Zahlen des Deloitte Financial Well-being Index jedoch darauf hin, dass europäische Konsumenten an finanzieller Kraft verlieren. [7] Rücklagen, die während der Pandemie auf-gebaut wurden, stagnieren aufgrund von Inflation und allgemeinen Preissteigerungen oder sind in den letzten Monaten sogar kleiner geworden. [8] Das wirkt sich zwangsläufig negativ auf die Ausgabebereitschaft aus.

54 Prozent der europäischen Non-Food-Retailer erwarten, dass ein Großteil der Verbraucher aus Spargründen dieses Jahr auf Markenprodukte verzichtet.

Laut Prognosen der befragten Experten verlieren Markenprodukte dieses Jahr daher deutlich an Relevanz. Stattdessen werden Verbraucher vermehrt auf preisgünstige No-Name-Produkte zurückgreifen. Knapp die Hälfte der Experten geht zudem davon aus, dass die Herstellungsbedingungen und der Produktionsstandort zugunsten des Preises in den Hintergrund treten werden – ein Rückschlag für das Vorantreiben von ESG-Standards.

Das hohe Preisbewusstsein wird folglich mit einer spürbaren Veränderung des Konsumverhaltens einhergehen. Davon profitieren wiederum Händler wie Temu, die mit Kampfpreisen auf die hohe Preissensibilität der Verbraucher reagieren. Neben wenigen Markenprodukten, die der Online-Händler anbietet, konzentriert sich das Sortiment nämlich grundsätzlich auf preisgünstige No-Name-Artikel. „Buy now, pay later“-Zahlungsoptionen ermöglichen Kunden dabei zusätzliche finanzielle Flexibilität: So können Kaufbedürfnisse direkt befriedigt werden, während die Bezahlung hinausgezögert wird. Der einfache Retouren-Prozss mit sofortiger (gegen Guthaben) oder schneller Rückerstattung komplettiert hier das kundenorientierte Einkaufserlebnis.

Steigende Betriebskosten treffen auf niedrige Kostenstrukturen

 

Auch wenn europäische Non-Food-Einzelhändler für das kommende Jahr grundsätzlich optimistisch in Bezug auf ihre Gewinnmargen sind, ist der direkte Wettbewerb mit derart niedrigen Produktpreisen, wie sie von Temu und Co. angeboten werden, unattraktiv.

58 Prozent der Non-Food-Retailer in Europa planen für 2024 Preiserhöhungen.

Tatsächlich plant ein Großteil der europäischen Non-Food-Händler sogar Preiserhöhungen (die meisten zwischen einem und vier Prozent). Das liegt unter anderem daran, dass diese mit weiter steigenden Betriebskosten für Produktion, Transport, Personal und Energie rechnen. Auch deutliche Kostensteigerungen durch Maßnahmen zum Schutz des Klimas werden gemeinhin erwartet.

Während die eine Seite also mit steigenden Kosten zu kämpfen hat, profitieren Marktplätze wie Temu auf der anderen Seite von günstigen Kostenstrukturen – Consumer-to-Manufacturer (C2M) ist das Schlüsselwort (s. Abb. 2). Als Vermittler fungiert Temu nämlich als Plattform, die direkt zwischen Hersteller und Käufer geschaltet ist. Dadurch werden Kosten, die durch Zwischenhändler entstehen, vermieden. Gleichzeitig sammelt das Unternehmen durch die Interaktion der Konsumenten mit der Plattform große Mengen an Daten, die zeitnah und transparent an die Hersteller weitergegeben werden. Durch diese enge Form der Kommunikation lassen sich Produkttrends und Konsumveränderungen frühzeitig ableiten und zentrale Produktions-, Lager- und Logistikentscheidungen treffen. [9]

Abb. 2 – Consumer-to-Manufacturer-Modell am Beispiel von Temu

Produktion und Nachfrage sind so aufeinander abgestimmt und Produkte können zu günstigeren Preisen angeboten werden. Letztere wiederum begünstigen potenziell die Höhe des Bestellvolumens und sorgen gleichzeitig dafür, dass Bestellwerte niedrig gehalten werden. Dadurch kann häufig die Zollfreigrenze von 150 Euro genutzt werden und es fallen keine Zollgebühren an. [10] Im Gegenzug sind Kunden bereit, für ihre Bestellungen längere Lieferzeiten von bis zu 14 Tagen in Kauf zu nehmen. Mit der angekündigten Integration von US-Händlern auf der Plattform und der anschließenden Zulassung von europäischen Händlern etwas später werden sich die Lieferzeiten aber absehbar verkürzen. [11]

 

Social-Commerce-Einsteiger treffen auf Spezialisten

 

Social Commerce und Influencer-Marketing sind zentrale Bausteine für den rasanten Erfolg von Temu und Co. Auf Social-Media-Plattformen lassen sich Verbraucher massenhaft zum Kauf von Produkten inspirieren, Challenges und Spiele ziehen sie häufig in ihren Bann und sorgen für hohe Engagement-Raten. Einkaufserlebnisse werden so auf Social-Media-Plattformen verlagert – ganz anders als beim traditionellen E-Commerce in Europa, der mit seinem Ansatz „suchen, finden, vergleichen, kaufen“ viel stärker strukturiert ist. Die chinesischen Plattformen bieten einen Erlebnisfaktor und sind damit auch eine Anlaufstelle, um sich inspirieren zu lassen. Kein Wunder also, dass Social Commerce so stark wächst. In China ist diese Art von E-Commerce bereits seit geraumer Zeit in der breiten Masse angekommen: Für dieses Jahr wird dort mit einem Umsatz von 523 Milliarden US-Dollar gerechnet. [12] Damit wird in China der Großteil des weltweiten Umsatzes mit Social Commerce generiert. Obwohl Europa gemessen an der Einwohnerzahl immerhin halb so groß ist wie die Volksrepublik, liegt hier der erwartete Umsatz mit Social Commerce in diesem Jahr bei 33 Milliarden US-Dollar – ein Bruchteil dessen, was damit in China umgesetzt wird. [13] Das Potenzial ist groß, das haben auch Non-Food-Retailer in Europa erkannt.

67 Prozent der europäischen Non-Food-Retailer sehen in Social Commerce (sehr) starke Wachstumschancen. 

Die Kollaboration mit Influencern wird dabei ebenfalls immer wichtiger.

 

Geringe Adaptionsgeschwindigkeit trifft auf jahrelange Erfahrung


Während Temu noch recht neu auf dem Markt ist, ist Pinduoduo als Handelsplattform derselben Konzerngruppe bereits seit fast einem Jahrzehnt als Online-Händler in China aktiv. Das Geschäftsmodell wurde also im Laufe der Jahre permanent optimiert. Das wiederum hat die Expansion von Temu in andere Märkte wie die USA, Großbritannien und Deutschland enorm begünstigt. Europäische Non-Food-Händler stehen angesichts dieser Erfahrungswerte vor enormen Herausforderungen.

Nur 54 Prozent der Non-Food-Retailer in Europa geben an, dass sie in der Lage sind, zügig geeignete Maßnahmen zu ergreifen, wenn sich Verbraucherpräferenzen ändern.

Um mit der Agilität chinesischer Plattformen Schritt zu halten und wettbewerbsfähig zu bleiben, können mitunter schnelle Anpassungen an sich verändernde Bedürfnisse der Verbraucher zwingend erforderlich sein. Viele europäische Einzelhändler aus dem Non-Food-Bereich geben an, dass sie Schwierigkeiten haben, dieser hohen Dynamik zu begegnen. Besonders herausfordernd wird es dann, wenn notwendige Anpassungen so umfassend sind, dass sie grundlegende Änderungen von Geschäftsmodellen erfordern.


Fazit

 

Was also können europäische Non-Food-Händler aus der aktuellen Entwicklung rund um Temu mitnehmen?

1. Rearranged priorities: Preis schlägt schnelle Lieferung
Von Next Day Delivery zu Same Day Delivery – in den letzten Jahren wurde viel über die Optimierung der Lieferkette und noch schnellere Lieferzeiten gesprochen. Bei Temu ist das bisher überhaupt kein Thema: Hier warten die Kunden schon mal bis zu 14 Tage auf ihre Bestellung. Das ist eine sehr interessante Entwicklung: Die sofortige Verfügbarkeit von Produkten tritt also zugunsten deutlich niedrigerer Preise fast vollständig in den Hintergrund – zumindest bei Produkten, die nicht direkt benötigt werden. Für europäische Händler könnte es sich lohnen, zu prüfen, ob ein solcher Trade-off für einige ihre Handelswaren ebenfalls realisierbar wäre.

2. Dynamic meets efficiency: Agilität in der Lieferkette
Mit dem C2M-Modell sowie dem dichten und transparenten Kommunikations- und Datenfluss, der damit einhergeht, sind Produktnachfrage und -herstellung besser aufeinander abgestimmt. Dadurch kann Temu – im Vergleich zu europäischen Einzelhändlern – wesentlich schneller auf aktuelle Verbrauchertrends reagieren und die angebotenen Produkte sind besser auf die Bedürfnisse der Verbraucher abgestimmt.

3. In trust we trust: Intensivierung der Kundenbindung 
Kundengewinnung ist deutlich kostenintensiver als Kundenbindung. [14] Dass Temu so schnell einen so großen Kundenstamm aufbauen konnte, zeigt nicht nur, dass ein günstiger Preis heute mehr denn je ein kaufentscheidendes Kriterium für europäische Verbraucher ist. Die dafür erforderlichen Investitionen deuten vor allem darauf hin, dass Temu gekommen ist, um lange zu bleiben. Umso wichtiger ist es, dass Marken an der bestehenden Beziehung zu ihren Kunden arbeiten und den Vertrauensaufbau weiter intensivieren. Für langfristigen Erfolg ist Vertrauen entscheidend.

4. Act bold: Social Commerce 2.0
Social Commerce ist vom Grundsatz her nichts Neues. Auch in Europa wurden schon einige Initiativen gestartet; keine davon hat sich wirklich durchgesetzt. [15] Das heißt nicht, dass Social Commerce auf dem europäischen Markt nicht funktioniert – das Gegenteil zeigt Temu –, sondern vielmehr, dass ein renditeorientierter Markt mehr Mut zur Transformation braucht. Chinesische Händler machen uns vor, wie Konsum durch Social Media zu einer emotionalisierten Gruppenerfahrung werden kann. Der Kunde und sein Erlebnis stehen hier im Zentrum. In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch der europäische Start von TikTok Shop in diesem Jahr genau zu beobachten.

Quellen

 

[1] zdf (2024): Bundesregierung für Temu-Überprüfung, zuletzt abgerufen am 10.4.2024.

[2] Verbraucherzentrale (2024): Schnäppchen-App Temu: Aufpassen beim Online-Shoppen!, zuletzt abgerufen am 10.4.2024.

[3] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit gelten sämtliche Personenbezeichnungen gleichermaßen für alle Geschlechter.

[4] Multi-Category Retailer.

[5], Similarweb (2023): Temu: The Ecommerce Upstart That's Shaking Up Europe, zuletzt abgerufen am 1.3.2024.

[6] tagesschau.de (2023): Die Temu-Strategie, zuletzt abgerufen am 1.3.2024.

[7] Deloitte (2023): Global financial well-being: A robust recovery losing momentum, zuletzt abgerufen am 1.3.2024.

[8] Deloitte Insights (2024): Deloitte's financial well-being index (FWBI), zuletzt abgerufen am 1.3.2024.

[9] TextilWirtschaft (2024): Warum Temu das Establishment nervös macht, zuletzt abgerufen am 2.4.2024.

[10] Generalzolldirektion (2024): Internetbestellungen, zuletzt abgerufen am 5.3.2024.

[11] Handelsblatt (2024): Shopping-App aus China bringt deutsche Händler in Bedrängnis, zuletzt abgerufen am 4.3.2024.

[12] ECDB (2024): Social Commerce in China: Female Consumers, Women’s Day & Douyin, zuletzt abgerufen am 6.3.2024.

[13] Statista Market Insights (2023): Social commerce revenue in Europe from 2018 to 2017, zuletzt abgerufen am 6.3.2024.

[14] Optimove (2024): Customer Acquisition vs. Retention Costs, zuletzt abgerufen am 8.4.2024.

[15] Markt und Mittelstand (2023): Neue Ära im E-Commerce, zuletzt abgerufen am 8.4.2024.

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Die Deloitte Industry Briefings analysieren Themen, die die Branchen bewegen, um kurzfristig und agil auf aktuelle Markentwicklungen und Branchenthemen reagieren zu können.