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LSHC Industry Briefing: Unterlagenschutz für Arzneimittel in Europa – Strategische Optionen für pharmazeutische Unternehmen

Am 26. April 2023 nahm die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine neue Richtlinie und eine neue Verordnung an, mit der die geltenden allgemeinen Arzneimittelvorschriften überarbeitet und ersetzt werden.

  • Vorschlag der Kommission für die Arzneimittelrichtlinie (ersetzt Richtlinie 2001/83/EC)
  • Vorschlag der Kommission für die Arzneimittelverordnung (ersetzt Verordnung 726/2004)

Die Richtlinie enthält alle Vorschriften über die Zulassung, die Überwachung, die Kennzeichnung und den rechtlichen Schutz, das Inverkehrbringen und andere Verfahren für alle Arzneimittel, die auf EU-Ebene und auf nationaler Ebene zugelassen werden.

Die Verordnung enthält (zusätzlich zu den Vorschriften der Richtlinie) spezifische Vorschriften für auf EU-Ebene zugelassene Arzneimittel (insbesondere für die innovativsten darunter). In ihr werden die Vorschriften für den koordinierten Umgang mit kritischen Engpässen und für die Versorgungssicherheit bei kritischen Arzneimitteln festgelegt. Ferner ist darin die Arbeit der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) geregelt.1

Diese Vorschläge werden seit der Veröffentlichung von den Stakeholdern im Gesundheitswesen kontrovers diskutiert und kommentiert. Besonders im Fokus steht dabei die vorgeschlagene konditionale Schutzzeit-Verlängerung für Arzneimittel (beziehungsweise die Verkürzung der garantierten Schutzzeit). Dies ist nachvollziehbar, weil es hierbei ganz konkret um ein Umsatzpotential geht, dass laut Angaben der Kommission im Durchschnitt 500 Millionen Euro im Jahr für ein geschütztes Produkt betragen kann2. Es lohnt sich daher, einen näheren Blick auf die Details der vorgeschlagenen Neuregelung des Unterlagenschutzes zu werfen und welche strategischen Optionen sich für die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie daraus ergeben.

 

Kontext

 

Im November 2020 hatte die Kommission eine Arzneimittelstrategie für Europa verabschiedet. Hierin wurde erstmals der Anspruch formuliert, Forschungsprioritäten der Industrie auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und die Anforderungen der Gesundheitssysteme abzustimmen.

Abbildung 1: Zielsetzungen der Arzneimittelstrategie für Europa

„Es handelt sich um eine patientenorientierte Strategie, die darauf abzielt, die Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln zu gewährleisten und gleichzeitig die globale Wettbewerbsfähigkeit des Sektors zu steigern. Sie bildet eine tragende Säule der Vision der Kommission für den Aufbau einer stärkeren europäischen Gesundheitsunion[…]4"

(Präsidentin von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union 2020)

Schon in der Arzneimittelstrategie für Europa3 gibt es sehr konkrete Ideen zur zukünftigen Incentivierung von Innovationen, unter anderem:

  • „[…]Vorschlag einer Überarbeitung des Anreizsystems und der aus den Rechtsvorschriften über Arzneimittel erwachsenden Pflichten unter Berücksichtigung der Verknüpfung mit den Rechten des geistigen Eigentums, um die Innovation, den Zugang und die Erschwinglichkeit von Arzneimitteln in der gesamten EU zu fördern […]“
  • „[…]Dies kann auch eine stärkere „Konditionalität“ zur Folge haben, d. h. die Knüpfung von Anreizen an die Förderung eines breiteren Zugangs für die Patientinnen und Patienten sowie an Möglichkeiten zur Steigerung des Wettbewerbs […]“

In den nun vorliegenden Gesetzvorschlägen vom 26. April 2023 werden diese Ideen aufgegriffen und im Sinne neuer Anforderung an die forschenden Pharma-Unternehmen weiter konkretisiert.

 

Das Konzept der „Konditionalen Exklusivität“ für Arzneimittel in Europa

 

Die Europäische Kommission hat eine Reihe von Zielen für eine Reform des Arzneimittelsektors formuliert.

Abbildung 2: Ziele des neuen EU-Gesetzgebungsverfahrens5

Ein zentraler Mechanismus zur Erreichung dieser Ziele ist die vorgeschlagene Reform der Schutzzeit-Regelung für patentgeschützte, innovative Arzneimittel. In der bisherigen Regelung wurde die Schutzzeit als pauschales Incentivierungs-Instrument verstanden, indem die Entwicklung neuer Arzneimittel über die Garantie einer 10 Jahre langen exklusiven Vermarktung belohnt wurde.

 

„8+2+1-Regel“

 

Die bisherige Regulierung sieht vor, dass patentgeschützte, innovative Arzneimittel acht Jahre Unterlagenschutz haben. Innerhalb dieses Zeitraums dürfen andere Unternehmen die Daten dieses Herstellers nicht für einen anderen Antrag auf Marktzulassung, z. B. für Generika, Hybride oder Biosimilars, nutzen. An die acht Jahre Unterlagenschutz schließt sich der Vermarktungsschutz an. Er beträgt in der Regel zwei Jahre (max. 10 Jahre ab Zulassung) und verhindert, dass Generika, Hybride oder Biosimilars in den Verkehr gebracht werden dürfen. Eine einmalige Verlängerung um ein Jahr ist möglich, wenn das Arzneimittel für ein neues Anwendungsgebiet zugelassen wurde.

Abbildung 3: Aktuelle Regulierung der Schutzzeit in Europa (basierend auf Artikel 14(11); (EC) No 726/2004)

In der nun vorgeschlagenen Neuregelung wird die Schutzzeit bewusst instrumentalisiert, um einzelne Ziele der Reform des Arzneimittelsektors im Bereich öffentliche Gesundheit über konditionale Schutzzeit-Verlängerungen zu incentivieren:

„[…]Wechsel von einem System mit pauschalen Anreizen für Pharmaunternehmen zu einem differenzierten Anreizsystem, das Unternehmen belohnt, wenn sie wichtige Zielsetzungen im Bereich öffentliche Gesundheit erfüllen, wie etwa gleicher Zugang zu Arzneimitteln in allen Mitgliedstaaten, Entwicklung von Arzneimitteln, die medizinische Versorgungslücken schließen, Durchführung von vergleichenden klinischen Prüfungen und Entwicklung von Arzneimitteln, mit denen auch andere Erkrankungen behandelt werden können. Bei Arzneimitteln für seltene Krankheiten wird eine ähnliche Differenzierung in Bezug auf die Marktexklusivität vorgeschlagen.“6

Abbildung 4: Vorgeschlagene Neuregelung der Schutzzeit in Europa

Wichtig: Die vorgeschlagene Reform lässt das EU-System zum Schutz des geistigen Eigentums (Patente, Marken, Urheberrechte, ergänzende Schutzzertifikate) unberührt.

 

Unterschiedliche Sichtweisen auf die vorgeschlagene Neuregulierung der Schutzzeit

 

Die Europäische Kommission hat in Ihrer Gesetzesvorlage sowohl für Reguläre als auch für Orphan Arzneimittel die maximale Schutzzeit um 1 Jahr ausgedehnt. Dies interpretiert die Europäische Kommission im Kontext einiger anderer vorgeschlagener Maßnahmen (z.B. kürzere EMA-Bearbeitungszeiten, frühere und bessere Beratung durch die EMA, übertragbare Gutscheine für den Unterlagenschutz für „revolutionäre“ antimikrobielle Mittel) als positiv für die Pharmazeutische Industrie:

„[…] diese Maßnahmen stellen einen attraktiven und international wettbewerbsfähigen rechtlichen Schutz dar, der das derzeitige System der Rechte des geistigen Eigentums ergänzt und den Unternehmen einen zusätzlichen Innovationsanreiz bietet.“7

Erste Stellungnahmen und Kommentare aus der Pharmazeutischen Industrie interpretieren die vorgeschlagenen Maßnahmen weniger positiv, insbesondere die Verkürzung der garantierten Schutzzeit (um 2 Jahre für Reguläre-, 1 Jahr für Orphan Arzneimittel) wird eher kritisch beurteilt:

“EU pharma-legislation risks sabotaging Europe’s life science industry putting European patients further away from the cutting-edge of healthcare.”

(Nathalie Moll, Director General, EFPIA)8

„Eine Aufweichung des Unterlagenschutzes und damit eine Reduzierung des Status quo wird bei den Unternehmen jedoch nicht dazu führen, Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln in der EU voranzutreiben.“

(Dr. Hans-Georg Feldmeier, -Vorstandsvorsitzender, BPI)9

„In Kontinentaleuropa etabliert sich ein Regulierungsmuster, das sich vor allem durch eines auszeichnet: Durch Kompliziertheit! Das haben wir im letzten Jahr bei der deutschen Gesetzgebung im Gesundheitswesen (GKV-FinStG) gesehen und jetzt sehen wir es bei dem Pharma-Maßnahmenpaket der EU wieder. Europa koppelt sich damit zunehmend von internationalen Entwicklungen ab und leistet sich obendrein noch den Luxus, keine Signale für einen innovationsfreundlichen Standort zu setzen. Das ist für eine Branche, die global aufgestellt ist, leider überhaupt nicht gut.“

(Han Steutel, Präsident, vfa)10

Welche Argumente tragen zu dieser unterschiedlichen Wahrnehmung bei? Die neue Regulierung erhöht grundsätzlich die Komplexität bei der Maximierung der Schutzzeit, da Verlängerungen an bestimmte Bedingungen geknüpft werden sollen.

Zwei Kernfragen hinsichtlich der Erfüllbarkeit dieser Bedingungen sind:

  • Wie hoch ist der zusätzliche Aufwand und das Investment im Vergleich zu den potenziellen Mehreinnahmen aus der Verlängerung der Schutzzeit?
  • Hat das Pharmazeutische Unternehmen die notwendige Kontrolle zur Erfüllung der konditionalen Schutzzeit-Verlängerung?

Ein typisches Szenario für Frage 1 wäre zum Beispiel der Aufwand und die Kosten für evtl. notwendige, zusätzliche vergleichende Studien. Dabei geht es zum einen um die Kosten für die Studie selbst, aber auch z.B. um die Frage, ob die vorhandene Organisation (Personal, Budget, Struktur) überhaupt in der Lage ist, eine Reihe von zusätzlichen Studien durchzuführen.

Ein typisches Szenario für Frage 2, wäre z.B. der Markteintritt in allen Mitgliedsländern innerhalb von 24 Monaten nach der ersten Zulassung. Unbestritten ist, dass es deutliche Unterschiede gibt betreffend die Periode bis zum Markteintritt. In einer aktuellen Analyse der EFPAI basierend auf IQVIA Daten11, dauert es im EU-Mittel 511 Tage von der Zulassung eines neuen Arzneimittels bis zur Verfügbarkeit für Patienten. In Deutschland ist dabei mit 133 Tagen dieser Zeitraum am kürzesten, während er in Rumänien mit 899 Tagen am längsten ist. Verschiedene Faktoren tragen zu diesen Unterschieden auf nationalem Level bei, z.B.:

  • die Dauer der Preis Verhandlung
  • die Dauer der Kosten/ Nutzen Analyse
  • die Bereitstellung von Budgets im Gesundheitssystem zur Finanzierung
  • die Sicherstellung der Abrechnungsmöglichkeit zwischen Leistungserbringern und Zahlern (Patient, Krankenversicherung, Staat)

In vielen Fällen hat das pharmazeutische Unternehmen nicht die Kontrolle über die Länge des Verfahrens, sondern ist von lokalen Regulierern, Verbänden und Institutionen abhängig. Hier bedarf es im weiteren parlamentarischen Prozess noch der Klarstellung hinsichtlich der Verantwortlichkeiten und der sich daraus eventuell ergebenen Konsequenzen hinsichtlich der konditionalen Schutzzeit-Verlängerung.

 

Impulse für eine strategische Bewertung hinsichtlich der vorgeschlagenen Reform

 

Die aktuelle Gesetzesvorlage wird sich sicherlich noch in Teilen im weiteren parlamentarischen Prozess verändert oder ergänzt. Die Hoffnung darauf, dass grundlegende Prinzipien der vorgeschlagenen Reform noch wesentlich verändert oder gestrichen werde, scheint eine riskante Wette zu sein. Es kann im Gegenteil davon ausgegangen werden, dass das grundsätzliche Prinzip der konditionalen Schutzzeit-Verlängerung, in welcher finalen Ausgestaltung auch immer, erhalten bleiben wird.

Pharmazeutische Unternehmen haben verschiedene Optionen mit der vorgeschlagenen EU-Gesetzesvorlage umzugehen. Es ist dabei auch nicht zu unterschätzen, dass die erfolgreiche Umsetzung der konditionalen Schutzzeit-Verlängerungen einer nicht unerhebliche Vorbereitungszeit bedarf:

  • Ist die heutige Organisation in der Lage, ein Produkt EU-weit in allen Märkten innerhalb von 24 Monaten einzuführen?
  • Was bedeutet die neue Anforderung für die Produktionsplanung und Supply Chain – evtl. den Aufbau oder die Erweiterung von Produktions-Kapazitäten, Warenlagern und Verteil-Zentren?
  • Welche Studien-Designs und zusätzliche Studien braucht es in Zukunft, um entsprechende konditionale Verlängerungen zu erhalten und ist die heutige Organisation bereit dafür?

Abbildung 5: Strategische Optionen für pharmazeutische Unternehmen

Pharmazeutische Unternehmen, die sich mit diesen und ähnlichen Fragen sehr frühzeitig (und datengetrieben!) auseinandersetzen, werden sich mit höherer Wahrscheinlichkeit den neuen Rahmenbedingungen ohne große Disruptionen im operativen Geschäft erfolgreich anpassen.

Das erfordert zunächst einmal einen höheren organisatorischen Aufwand, daraus können sich aber in der Konsequenz Wettbewerbsvorteile und erhöhte Planungssicherheit für gestaltend handelnde Unternehmen ergeben.

1 Europäische Kommission (2023): Häufig gestellte Fragen: Reform des Arzneimittelrechts, zuletzt abgerufen am 25.05.2023.

2 Financial times (2023): EU aims to create ‘single market for medicines’ with overhaul of pharma rules, zuletzt abgerufen am 25.05.2023.

3 Europäische Kommission (2020): Eine Arzneimittelstrategie für Europa“, zuletzt abgerufen am 25.05.2023.

4 Europäische Kommission (2020): Europäische Gesundheitsunion - Unsere Gesundheit gemeinsam schützen, zuletzt abgerufen am 25.03.2023.

5 Europäische Kommission (2023): Reform des EU-Arzneimittelrechts, zuletzt abgerufen am 25.03.2023.

6 Europäische Kommission (2023): Häufig gestellte Fragen: Reform des Arzneimittelrechts, zuletzt abgerufen am 25.03.2023.

7 Europäische Kommission (2023): Häufig gestellte Fragen: Reform des Arzneimittelrechts, zuletzt abgerufen am 25.05.2023.

8 European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (2023): EU pharma-legislation risks sabotaging Europe’s life science industry putting European patients further away from the cutting-edge of healthcare, zuletzt abgerufen am 25.05.2023.

9 ÄrzteZeitung (2023): EU-Pharma-Reform: Neue Anreize für innovative Medikamente, zuletzt abgerufen am 25.05.2023.

10 healthpolicy-online (2023): Verbände üben Kritik am „Pharma-Paket, zuletzt abgerufen am 25.05.2023.

11 European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (2022): EFPIA Patients W.A.I.T. Indicator 2022 Survey, zuletzt abgerufen am 25.05.2023.