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Financial Industry Briefing: Eine Krise jagt die nächste – Europäischer Finanzsektor rechnet nicht mit rascher Erholung

Kaum hatte sich der europäische Finanzsektor von den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie erholt und sich auf das neue postpandemische Umfeld eingestellt, folgte mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 der nächste Schock. Seither prägen geopolitische Unsicherheiten, Energieknappheit, Inflation, die geldpolitische Wende und eine drohende Rezession das operative Umfeld. Wieder sind Finanzunternehmen gefragt, sich zügig auf die neuen Herausforderungen einzustellen. Die Einschätzungen der CFOs aus dem europäischen Finanzsektor, die im Rahmen der aktuellen Herbst-Ausgabe des CFO Survey 2022 erhoben wurden, zeigen, dass die Verantwortlichen der Branche zurzeit keine Hoffnung auf eine baldige Erholung haben.

Der halbjährlich durchgeführte Deloitte CFO Survey konstatierte bereits im Frühjahr dieses Jahres einen erheblichen Stimmungseinbruch innerhalb der europäischen Finanzbranche infolge des Ukraine-Kriegs. Im Herbst wurden im Zuge der aktuellen Ausgabe erneut rund 1.150 CFOs aus 15 europäischen Ländern befragt, darunter 169 Finanzvorstände der Financial Services Industrie (FSI). Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, wie die CFOs der Finanzbranche die Aussichten ihrer Unternehmen aktuell einschätzen und wie sie die neuesten Entwicklungen und Risiken bewerten

Trotz Zinswende keine Erholung in Sicht

Anders als bei der COVID-19-Pandemie rechnen die CFOs aus der Financial Services Industrie (FSI) diesmal nicht mit einer raschen Erholung. Während die Befragten nach dem ersten kräftigen Stimmungseinbruch im Frühjahr 2020 die Talsohle der Corona-Krise nach nur wenigen Monaten durchschritten sahen, trüben die aktuellen Entwicklungen das Stimmungsbild der Vorstände deutlich nachhaltiger. Trotz der lang ersehnten Zinswende herrscht unter den CFOs aus der Finanzbranche derzeit recht wenig Zuversicht. So bewerten mehr als die Hälfte der Survey-Teilnehmer ihre aktuellen Geschäftsaussichten sogar schlechter als im Quartal zuvor (siehe Abbildung 1).

Abb. 1: Anteil europäischer CFOs der Finanzbranche, welche die finanziellen Aussichten ihres Unternehmens* im Vergleich zum Vorquartal optimistischer/weniger optimistisch einschätzen

Wenngleich die Risiken durch die Krise deutlich zunehmen, sehen Aufseher und Regulatoren die Stabilität innerhalb des Sektors momentan nicht gefährdet1. Die europäischen Finanzunternehmen zeigen sich krisenerprobt. Infolge der globalen Finanz-, Staatsschulden- und COVID-19-Krisen sind sie mittlerweile deutlich resilienter als noch eine Dekade zuvor. Die schlechten Ergebnisse des CFO Survey spiegeln in weiten Teilen das eingetrübte gesamtwirtschaftliche Bild und die wachsenden Konjunktursorgen wider.

 

Finanzbranche im Mittelfeld des Stimmungsbildes

Der europäische Finanzsektor steht mit seiner negativen Einschätzung der derzeitigen Lage nicht allein da. Abbildung 2 zeigt, dass keine der befragten Industrien im Schnitt zuversichtlicher in die Zukunft blickt als noch im Quartal zuvor. Selbst die optimistischste der Industrien – die Reise- und Tourismus-Branche – zeigt sich mit einem Nettosaldo** von -17 Prozent im Schnitt eher pessimistisch. Mit einem Nettosaldo von -40 Prozent liegt die Financial Services Industry (FSI) im Branchenvergleich genau im Mittelfeld.

Abb. 2: Anteil europäischer CFOs nach Industrie, welche die finanziellen Aussichten ihres Unter-nehmens im Vergleich zum Vorquartal optimistischer/weniger optimistisch einschätzen

Doch anders als die übrigen Industrien profitiert der Finanzsektor erheblich vom Kurswechsel der Europäischen Zentralbank (EZB). Für europäische Finanzunternehmen bedeutet die geldpolitische Kehrtwende die erste Zinserhöhung seit nunmehr elf Jahren. Dies dürfte sich für Banken besonders im Hinblick auf ihr Kreditgeschäft auszahlen und zu einem deutlichen Anstieg des Zinseinkommens beitragen.

Versicherungsunternehmen dürften im Allgemeinen aufgrund der typischerweise bestehenden Durationslücke*** ebenfalls vom Zinsanstieg profitieren. Besonders Lebensversicherungen kommt der eingeläutete Ausstieg aus dem Niedrigzinsumfeld zugute. Durch höhere Zinsen können leichter Zinsgarantien bedient und das Anlagerisiko reduziert werden. Was also steckt hinter dem breiten Pessimismus innerhalb der Branche?

 

Enorme Unsicherheiten trüben das Geschäftsumfeld

 

Die aktuelle Krise birgt in vielerlei Hinsicht ein neues Ausmaß an Unsicherheit. Die Rückmeldungen der CFOs zeigen, dass die wahrgenommene Unsicherheit im ökonomischen und finanziellen Umfeld momentan rekordverdächtig hoch ist. Dies ist innerhalb der europäischen Finanzbranche besonders ausgeprägt. 79 Prozent der Befragten sehen sich mit einem hohen Maß an Unsicherheit für ihr Unternehmen konfrontiert (siehe Abbildung 2) – dies erklärt wohl auch den nachhaltigen Stimmungseinbruch. Wie im nächsten Abschnitt noch ausführlicher erläutert wird, bleiben auch Finanzunternehmen nicht von den Krisenfolgen verschont. Die unterschiedlichen direkten und indirekten Auswirkungen auf den Sektor insbesondere infolge der Rekordinflation und der drohenden Rezession sind wesentliche Treiber der derzeitigen Unsicherheit.

Abb. 3: Wahrgenommenes finanzielles und wirtschaftliches Maß an Unsicherheit unter den CFOs der Financial Services Industrie (FSI) im Vergleich zur Gesamtwirtschaft

Angesichts der momentanen Wirtschafslage erwarten die CFOs in näherer Zukunft auch keine Verbesserung der Lage. Vielmehr rechnen die Survey-Teilnehmer der europäischen Financial Services Industrie (FSI) auch längerfristig mit einer Inflation deutlich über dem EZB-Ziel von zwei Prozent. Für das Jahr 2023 wird im Schnitt sogar von einer Inflationsrate von fünf Prozent ausgegangen, die im Jahr 2024 auf immerhin drei Prozent abflachen soll.

Diese Entwicklungen am Markt lassen die im Jahr 2021 noch zurückgewonnene Zuversicht unter den CFOs schwinden. Auf mittlere Frist könnten die insgesamt eingetrübten wirtschaftlichen Aussichten ihren Tribut zollen und die Vorteile aus dem Zinsanstieg teilweise aufheben. Dies hat auch einen spürbaren Effekt auf die Umsatz- und Margenentwicklung der Finanzunternehmen.

 

Margen mittelfristig weiter unter Druck

 

Die erst im Vorjahr wieder deutlich gestiegenen Umsatz- und Profitabilitätserwartungen wurden entsprechend der aktuellen Konjunktursorgen nach unten angepasst. Innerhalb der nächsten zwölf Monate rechnen weniger CFOs der europäischen Financial Services Industrie (FSI) mit einer Umsatzverbesserung als noch in der Frühjahrs-Ausgabe der Studie (siehe Abbildung 4 links). Dennoch wird im Schnitt nach wie vor ein Anstieg des Umsatzes erwartet. Dem können verschiedene Treiber zugrunde liegen, beispielsweise die hohe Inflationsrate. Aufgrund der Preissteigerungen benötigen Bankkunden z.B. höhere Kreditsummen bzw. Versicherungsnehmer müssen sich höhere Summen absichern lassen.

Besonders die operativen Margen scheinen den Finanzvorständen Sorgen zu bereiten. Mit einem Nettosaldo** von – 21 Prozent erwarten im Schnitt mehr CFOs einen Rückgang und sehen damit in den nächsten zwölf Monaten ihre Margen weiterhin unter Druck (siehe Abbildung 4 rechts). Insgesamt ist die Inflation und der damit verbundene Zinsanstieg auch für die Finanzbranche ein zweischneidiges Schwert. Wenngleich ein Großteil der Finanzunternehmen zunächst von der geldpolitischen Wende profitiert, steigen zugleich infolge der Inflation die Betriebs-, Personal- und Verwaltungskosten. Ebenfalls geht damit eine Teuerung der Refinanzierungskosten einher – die Zeit des billigen Geldes ist zumindest auf absehbare Zeit vorbei. Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Faktor ist das nun gestiegene Zinsänderungsrisiko, wenngleich sich europäische Finanzunternehmen laut EZB zunehmend abgesichert haben2.

Wie werden sich Umsatz und operative Margen* in Ihrem Unternehmen in den nächsten 12 Monaten verändern?

Für Versicherungen kommt hinzu, dass ein wirtschaftlicher Abschwung die Wachstumsprognosen innerhalb des Versicherungssektors verschlechtert und die infolge der Inflation stark gesunkenen Reallöhne mit einer geringeren Nachfrage nach Versicherungspolicen einhergehen dürften. Zudem haben die vor dem Zinsanstieg vermehrt gekauften festverzinslichen Wertpapiere an Wert verloren, sodass zunehmend stille Reserven gebildet werden müssen.

Auch für Banken ist der drohende Rezessionskurs ein zentraler Risikofaktor. Angesichts der eingetrübten wirtschaftlichen Aussichten könnte es zu einer deutlichen Verschlechterung der Kreditqualität und zur Häufung von Kreditausfällen kommen. Zudem dürften die steigenden Finanzierungskosten in einigen Geschäftsbereichen mit einem Rückgang der Kreditnachfrage einhergehen. Dies zeigt sich im Privatkundengeschäft z.B. an den abnehmenden Volumina für Wohnungsbaukredite. Der Druck auf die Profitabilität europäischer Banken bleibt angesichts der Vielzahl an komplexen Krisenfolgen also zunächst bestehen.

Inwiefern ein Finanzunternehmen vom Zinsanstieg profitiert und welche Effekte dies (über)kompensieren, hängt allerdings auch erheblich vom Geschäftsmodell ab. Daher fallen die Auswirkungen der aktuellen Krise für die Unternehmen des Finanzsektors recht ungleich aus. Im Rahmen des diesjährigen Deloitte Banking & Capital Market Outlook bzw. Deloitte Insurance Outlook werden diese Aspekte näher diskutiert.

 

Strategien für eine unsichere Zukunft

Der europäische Finanzsektor muss sich unmittelbar auf die neuen Unsicherheiten einstellen und zügig mit geeigneten Strategien reagieren.

Abb. 5: Welche der folgenden Strategien sind für Ihr Unternehmen wichtig, um mit der Inflation umzugehen?

Wie in der aktuellen Ausgabe des Banken- und Kapitalmarktausblicks erläutert wird, gewinnt in einem solch volatilen Ertragsumfeld vor allem die Kostenoptimierung an Bedeutung. Dies untermauert auch der aktuelle CFO Survey 2022, in dem die Teilnehmer zu möglichen Gegenmaßnahmen zur Eindämmung der Inflationsfolgen befragt wurden. Die FSI-Finanzvorstände ziehen dabei eine Reihe an Maßnahmen zur Abfederung der Inflation in Betracht (siehe Abbildung 5). Die am häufigsten genannten Strategien sind die Verbesserung der Energieeffizienz bzw. Energieeinsparungen (52%), die Erhöhung der Investitionsausgaben zur Kostenreduzierung (52%), die Weitergabe der Preissteigerungen an Kunden (52%), die Fokussierung auf Märkte oder Dienstleistungen mit höheren Margen (50%) sowie die Verbesserung des Cashflow-Managements (50%).

Am seltensten und deutlich unter dem Durchschnitt nannte die unter dem Fachkräftemangel leidende Finanzbranche die Reduzierung von Personalkosten (25%). Die Ergebnisse verdeutlichen auch, dass die Financial Services Industrie (FSI) insgesamt weniger stark von den Preissteigerungen betroffen ist als andere Industrien. So lagen die Antworten der FSI-CFOs in allen Kategorien unter dem branchenübergreifenden Durchschnitt.

Vielmehr sehen sich die Finanzunternehmen weiterhin mit strukturellen Herausforderungen konfrontiert. Eine Reihe bedeutender Trends und Treiber, darunter die zunehmende Digitalisierung, ESG-Anforderungen oder auch veränderte Kundenerwartungen, werden das zukünftige operative Umfeld weiterhin stark prägen. Die Transformation des europäischen Finanzsektors wird auch in der aktuellen Krise weiter voranschreiten. Finanzunternehmen sind gefragt, ihre Geschäftsmodelle mit Blick auf diesen Wandel zunehmend auf den Prüfstand zu stellen.

1European Central Bank | Eurosystem (2022): Financial Stability Review. November 2022, https://www.ecb.europa.eu/pub/financial-stability/fsr/html/index.en.html, 20.12.2022.

2European Central Bank | Eurosystem (2022): Financial Stability Review. May 2022, https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/fsr/ecb.fsr202205~f207f46ea0.en.pdf, 20.12.2022.

 

** Der Nettosaldo ergibt sich aus dem Prozentsatz positiver Antworten („optimistisch“) abzüglich des Prozentsatzes negativer Antworten („weniger optimistisch“).

*** Die Durationslücke ist die Differenz der Duration von Passiv- und Aktivseite. Bei Versicherungsunternehmen finden sich typischerweise langfristige Verbindlichkeiten auf der Passivseite und Kapitalanlagen mit geringeren Anlagehorizonten auf der Aktivseite. Bei dieser (negativen) Durationslücke führt ein Zinsanstieg dazu, dass die Verbindlichkeiten stärker an Wert verlieren als die Aktiva und somit steigt der Unternehmenswert.

 

Autorin:

Dr. Corinna Woyand

Associate Manager | Financial Services Research