Die Deloitte Industry Briefings analysieren Themen, die die Branchen bewegen, um kurzfristig und agil auf aktuelle Markentwicklungen und Branchenthemen reagieren zu können.
Die Automobilindustrie durchläuft derzeit den wohl tiefgreifendsten Transformationsprozess ihrer Geschichte. Auf ihrem Weg hin zu Elektromobilität und digitalen Geschäftsmodellen kämpft die Branche seit vielen Monaten zudem mit massiven Knappheiten bei Halbleitern. Hersteller und Zulieferer mussten bereits lange Produktionsstillstände hinnehmen, nun verschärft der Krieg in der Ukraine die Situation noch weiter. Die aktuellen Engpässe werden die Branche absehbar noch lange beschäftigen. 58 Prozent der von Deloitte befragten Finanzvorstände von OEMs und Zulieferern rechnen mit Lieferkettenproblemen bis Mitte 2023.
Ein Themenschwerpunkt des aktuellen Deloitte CFO-Survey sind die Lieferkettenprobleme in verschiedenen europäischen Industrien. Grundlage der vorliegenden Analyse bilden die Rückmeldungen von 46 befragten Finanzvorständen aus dem Automobilsektor. Branchenübergreifend teilten insgesamt 1.260 CFOs ihre Einschätzungen zur wirtschaftlichen Lage.
Die für die Automobilindustrie erhobenen Daten lassen keinen Zweifel aufkommen: Die durch Krieg und Pandemie verursachten Werksschließungen – vor allem in China - sowie die anhaltende Halbleiterknappheit führen zu massiven Lieferverzögerungen. 62 Prozent der Automotive-CFOs gaben an, ihr Unternehmen sei von Lieferkettenproblemen in einem hohen Umfang betroffen (s. Abb. 1). Der Unterschied zum Branchendurchschnitt ist enorm, hier liegt der Anteil bei nur 21 Prozent. Auch eine andere Zahl illustriert die angespannte Situation in der Automobilbranche: Industrieübergreifend sind 40 Prozent der Unternehmen überhaupt nicht oder nur in geringem Maße mit Lieferkettenproblemen konfrontiert, im Automobilsektor sind es gerade einmal zwei Prozent. Der Vergleich belegt: Die Automobilindustrie ist nach Wahrnehmung der Finanzvorstände eindeutig die am stärksten von Lieferkettenproblemen betroffene Branche.
Abb. 1: In welchem Ausmaß ist ihr Unternehmen derzeit von Lieferketten-/Lieferproblemen betroffen?
Es bleibt ungewiss, wann sich die angespannte Lieferketten-Situation normalisieren wird. Im Gegensatz zu anderen Sektoren erwartet kaum ein CFO aus der Automobilindustrie eine Erholung vor Ende 2022. Fast drei Viertel sehen eine Stabilisierung der Lage erst im Laufe des kommenden Jahres. Daher bereiten sich die Unternehmen der Autobranche darauf vor, sich noch mindestens ein Jahr lang mit Lieferkettenproblemen beschäftigen zu müssen. Die meisten Finanzvorstände sind immerhin zuversichtlich, dass die Lieferschwierigkeiten nicht ins übernächste Jahr reichen werden: Nur 16 Prozent der teilnehmenden CFOs erwarten die Rückkehr zu funktionierenden Lieferketten erst im Jahr 2024 oder später (s. Abb. 2).
Abb. 2: Wann erwarten Sie, dass Ihre Lieferketten wieder normal funktionieren?
Neben den Engpässen bei Halbleitern haben der Krieg in der Ukraine, die Sanktionen gegen Russland und Restriktionen in China im Rahmen der dortigen Null-Covid-Strategie zu einer Erhöhung der Preise von Rohstoffen und Zwischenprodukten geführt. 66 Prozent der befragten CFOs aus der europäischen Automobilbranche führen an, dass höhere Preise für ihr Unternehmen das Hauptproblem in der Lieferkette darstellen (s. Abb. 3). Industrieübergreifend liegt dieser Anteil um 23 Prozentpunkte niedriger. Auch gestiegene Transportkosten werden als relevantes Problem von deutlich mehr als die Hälfte der Finanzchefs (58%) wahrgenommen. Lieferunterbrechungen bei wichtigen Komponenten (z. B. Kabelbäumen), Rohstoffengpässe (insbesondere Palladium, Platin und Nickel) und Energiepreisspitzen haben verzögerte Lieferungen von Zwischenprodukten zur Folge. Dies nehmen 49 Prozent der befragten Automotive-CFOs in ihren Unternehmen als problematisch wahr. Die Probleme in den Lieferketten werden daher als vielschichtig wahrgenommen und dürften sich nach Angaben der CFOs potenziell mittel- oder sogar langfristig auswirken.
Abb. 3: Was sind die Hauptprobleme in der Lieferkette Ihres Unternehmens?*
Da Probleme in der Supply Chain nicht neu sind, haben viele Unternehmen bereits in der Vergangenheit an Lösungen gearbeitet. Zahlreiche Komponenten und Rohstoffe sind kurzfristig nur schwer zu ersetzen, wie z.B. die in der Ukraine hergestellten Kabelbäume oder das russische Palladium. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, die Risiken zu minimieren. So halten es 56 Prozent aller befragten CFOs aus der Branche für wichtig, die eigenen Bestände an Teilen und Zubehör zu erhöhen. Knapp mehr als die Hälfte (51%) sind der Meinung, die Diversifizierung von Lieferanten und Vertriebswegen wäre der richtige Weg für die Zukunft (s. Abb. 4). Beispielsweise wollen große Automobilhersteller in den nächsten Jahren Chips mitentwickeln und direkte, strategische und langfristige Beziehungen zu Chip-Produzenten aufbauen, während sie auf der anderen Seite die Praxis der Just-in-Time-Bestandsverwaltung aufgeben[1]. Darüber hinaus werden Stress- und Szenariotests sowie die Nutzung digitaler Tools als wichtige Maßnahmen zur Bekämpfung der Lieferkettenproblemen wahrgenommen.
Abb. 4: Hat Ihr Unternehmen eine der folgenden Maßnahmen ergriffen oder wird es diese ergreifen?
Der Automobilmarkt liegt derzeit noch weit unter dem Niveau von vor der Pandemie. Auch wenn sich die Halbleiterknappheit in der zweiten Jahreshälfte entspannen würde, hätte die globale wirtschaftliche Unsicherheit u.a. aufgrund des Krieges in der Ukraine und starker Inflation immer noch das Potenzial für eine nachhaltigere Eintrübung bei Fahrzeugverkäufen. Die befragten CFOs sind sich dessen bewusst, ihre Einschätzungen zeigen eine durchaus skeptische Wahrnehmung, aber auch ein respektables Aktivitätsniveau.
Eine Neugestaltung der Lieferantenbeziehungen durch verstärkte Allianzen entlang der Lieferketten ist bereits im Gange. Dies wird absehbar zu einer besseren Zusammenarbeit und einem optimierten Risikomanagement zwischen OEMs, Zulieferern und Technologieunternehmen führen. So werden zusätzliche Transparenz und Interaktion entlang der Supply Chains sichergestellt, was schlussendlich zu effektiveren Lieferketten führt. Zusätzlich investieren Automobilunternehmen in Designkompetenzen und die Eigenproduktion von Schlüsselkomponenten wie Chips, um eine bessere Kontrolle über die Lagerbestände zu erlangen und ihre eigene Position in künftigen Ökosystemen zu stärken.
Ob und wie eine hohe Fahrzeugnachfrage gedeckt werden kann, wird auch davon abhängen, wie konsequent die Automobilunternehmen auf bestehende Probleme in der Lieferkette reagieren. Die aktuellen Probleme können dabei durchaus als Chance verstanden werden, um sich resilienter gegenüber künftigen Lieferengpässen aufzustellen. OEMs und Zulieferer werden dann sogar gestärkt aus den aktuell schwierigen Zeiten hervorgehen.
Nicolas Zauner
ES Professional | Automotive Research
[1] Pacheco, Davenport, Ramsey, Gupta. (2022, 27. Januar). Top 5 Automotive Technology Trends for 2022. Gartner. Abgerufen am 1. Juni 2022, von https://www.gartner.com/document/4010825?ref=solrResearch&refval=327771187Die Deloitte Industry Briefings analysieren Themen, die die Branchen bewegen, um kurzfristig und agil auf aktuelle Markentwicklungen und Branchenthemen reagieren zu können.
Harald Proff arbeitet seit 2015 bei Deloitte und ist Automotive Sektorleiter für Global/DCE/Deutschland. Sein Fokus liegt auf Transformationsprogrammen und neuen Geschäftsmodellen der industriellen Fertigung sowie der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung von Industrieunternehmen. Er ist der Gründer der Deloitte Digital Factory in Düsseldorf. Neben Deutschland hat er auch länger in Südkorea und Brasilien gelebt und gearbeitet. Nach seinem Studium in der Fachrichtung Wirtschaftsingenieurwesen und Maschinenbau und anschließender Promotion an der TU Darmstadt startete er als Manager für Industrialisierungsprojekte bei Mercedes Benz in das Berufsleben. Der Automobilindustrie ist er auch als Berater immer treu geblieben. Vor seiner Rolle als Automotive Sektorleiter war Herr Proff Lead Partner Operations Deutschland.