Das Jahr 2022 hatte in seiner ersten Hälfte wirtschaftlich und politisch sehr viele schlechte und sehr wenig gute Nachrichten zu bieten. Der Krieg in der Ukraine, explodierende Energiepreise, hohe Inflation, die Zinswende, andauernde Lieferkettenprobleme und Corona-Wellen ergeben eine Kombination, die den eigentlich erwarteten wirtschaftlichen Aufschwung in diesem Jahr aus dem Gleichgewicht bringt. Dazu kommen noch konjunkturelle Sorgen in den beiden wichtigsten Exportmärkten, USA und China. Und als wäre diese Kombination nicht genug, schwebt auch noch das Risiko eines endgültigen Lieferstopps für russisches Gas nach Ende der regulären Wartungsarbeiten an der North Stream 1 Pipeline über der deutschen Konjunktur.
Kaum einer der belastenden Faktoren war Anfang des Jahres in diesen Dimensionen absehbar, so dass die erste Jahreshälfte von konstanten Abwärtsrevisionen der Konjunkturprognosen gekennzeichnet war. Die gemessene Unsicherheit im unternehmerischen Umfeld ist dadurch so hoch wie nie. Aktuell gehen wir in unserem Baseline-Szenario von geringem Wachstum für 2022 aus. Weiter steigende Rohstoff- und Energiepreise könnten allerdings in einer leichten Rezession münden, ein Stopp russischer Gaslieferungen hätte hingegen eine schwere Rezession zur Folge.
Zur Mitte des Jahres sind die Signale der Frühindikatoren negativ, wenn auch nicht völlig einheitlich. Der Ifo Index ist seit Kriegsbeginn deutlich gefallen, vor allem die künftigen Geschäftserwartungen sind negativ, während die aktuelle Lage deutlich besser eingeschätzt wird. Gleichzeitig zeigt sich eine Spaltung zwischen Industrie und Dienstleistungen. Dank Nachholeffekten haben sich die Dienstleistungen zuletzt deutlich besser entwickelt als die von Lieferkettenproblemen geplagte Industrie. Die Investitionsbereitschaft der Unternehmen sinkt, liegt aber nach dem aktuellen Deloitte CFO Survey nach wie vor knapp im positiven Bereich.
Düster ist die Lage hingegen bezüglich der Konsumentenstimmung. Die Konsumenten zeigten sich lange sehr resilient gegenüber der Omikron Welle. Allerdings bricht aktuell die Stimmung durch den Krieg in der Ukraine und die Inflation ein; der GfK Konsumklimaindex ist im stark negativen Bereich und liegt mit -26 sogar noch unter den Werten der ersten Corona-Welle. Dies ist insofern ein besonders negatives Zeichen, da die Konsumenten eigentlich den Aufschwung in diesem Jahr tragen sollten.
Allerdings gibt es auch positive Indikatoren. Der Arbeitsmarkt floriert nach wie vor, und nach den Ergebnissen des Deloitte CFO Survey bleibt die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen konstant hoch. Das stützt die Einkommen der Konsumenten, die auch nach der Pandemie gesamtwirtschaftlich weiterhin über hohe Ersparnisse verfügen. Nach Berechnungen von Deloitte Research betragen die Extra-Ersparnisse, also die über die normale Sparquote hinausgehende Summe, aktuell 190 Milliarden Euro. Auch dies hat einen stützenden Effekt auf den Konsum, beziehungsweise kann das die hohe Inflation zumindest abfedern.
Belastend für die Entscheidungen der Unternehmen und Konsumenten ist die extrem hohe Unsicherheit, die sich aus all diesen Risikofaktoren ergibt. Der Economic Policy Uncertainty Index, ein textbasierter Index zur Messung von Unsicherheit, ist für Deutschland auf Rekordwerte geklettert und liegt sehr viel höher als während der Finanz- oder der Corona-Krise. [1]
Die konjunkturellen Gegenwinde sind zahlreich. Die Energiepreise sind explodiert, die Rohstoffpreise sind ebenfalls stark gestiegen, wenn auch aktuell wegen Rezessionssorgen leicht rückläufig. Die Inflation in Deutschland lag im Juni bei 7,6 Prozent und wäre ohne Tankrabatt und das 9-Euro-Ticket noch höher ausgefallen. Die EZB bereitet eine Zinswende vor, die Fed hat diese bereits eingeleitet. Am Ende ist die Erwartung, dass die Zinsen in den USA Ende 2023 bei 3,625 Prozent stehen werden.
Die sehr entschlossene Zinswende in den USA lässt zumindest für nächstes Jahr die Rezessionsgefahren steigen. Historisch hat ein „soft landing“, also die Vermeidung einer Rezession bei schnellen Zinssteigerungen, eher selten geklappt. In China wiederum dürfte das regierungsamtliche Ziel von 5,5 Prozent Wachstum in 2022 durch die weitreichenden Lockdowns in vielen Städten im zweiten Quartal des Jahres kaum zu erreichen sein; ein Wachstum von nahe vier Prozent ist sehr viel realistischer.
Trotz des heftigen konjunkturellen Gegenwinds ist eine Rezession nicht unausweichlich. Im Baseline-Szenario gehen wir zwar von einem weiteren Rückgang des Wachstums in Deutschland aus, vor allem wegen der Effekte aus der Unsicherheit und der Inflation auf Investitionen und Konsumausgaben. Dennoch dürfte das Wachstum 1,3 Prozent in 2022 erreichen. Dies erscheint unter den gegenwärtigen Umständen als positive Überraschung. Allerdings lagen die ursprünglichen Vorhersagen für 2022 bei knapp vier Prozent, und darüber hinaus ist Deutschland mit einem hohen statistischen Überhang in das Jahr gestartet. Da das Wachstum im letzten Quartal 2021 höher lag als im Durchschnitt 2021, würde auch eine Stagnation auf dem Level des letzten Quartals statistisches Wachstum bedeuten. Der statistische Überhang lag laut Bundesbank bei 1,1 Prozent. [2] Ebenfalls muss berücksichtigt werden, dass Deutschland als eines der wenigen Länder in Europa noch immer nicht das Vor-Corona-BIP-Niveau erreicht hat. Nächstes Jahr würde das Wachstum im Baseline-Szenario dann 0,8 Prozent betragen.
Sollten die Rohstoff- und Energiepreise weiter erhöht bleiben, die Geldpolitik die Zinsen sehr schnell anheben, und das Verbrauchervertrauen weiter leiden, würde sich der konjunkturelle Ausblick ändern; unter diesen Bedingungen ist ein leicht niedrigeres Wachstum von 1,2 Prozent in 2022 und eine Rezession in der Größenordnung von-1,3 Prozent in 2023 zu erwarten.
Zu all diesen Risiken tritt ein weiteres hinzu, nämlich die Möglichkeit eines Stopps russischer Gaslieferungen nach den regulären Wartungsarbeiten an der North Stream 1 Pipeline nach dem 21. Juli 2022. Es ist völlig unklar, ob und wieviel Gas danach geliefert wird. Die möglichen konjunkturellen Konsequenzen eines völligen Gas-Stopps sind allerdings beträchtlich. Eine quantitative Abschätzung ist schwierig, weil es keinerlei Erfahrungswerte gibt. Selbst im kalten Krieg wurden die Energielieferungen ohne Unterbrechungen abgewickelt. Von daher beruhen die Schätzungen auf Modellen die auf der Input-Output Rechnung basieren, mit der die sektoralen Verflechtungen in einer Volkswirtschaft abgebildet werden.
Die Ergebnisse hängen dabei von mehreren Annahmen ab. Dazu gehören die Einsparpotenziale von Gas sowie das tatsächliche Verhalten von Verbrauchern und Unternehmen genauso wie Annahmen über zusätzliche Gas-Lieferanten, den Zeitpunkt der Fertigstellung von neuen LNG-Terminals, den Füllstand der Gasspeicher zum Zeitpunkt des Lieferstopps und die Möglichkeiten einer Umverteilung innerhalb der EU. Ebenso wichtig sind Annahmen darüber, inwieweit Gasmangel zu einer Stilllegung der Produktion in vor- und nachgelagerten Stufen führt oder ob das Gas zu einem gewissen Grad ersetzt werden kann. Insofern können die theoretischen Berechnungen nur grobe Anhaltspunkte über die makroökonomischen Effekte liefern.
Es ist allerdings klar, dass der größte Effekt eines Stopps erst im Winter 2023 auftreten würde, weil für das verbleibende Jahr noch Reserven vorhanden sind. Einige Institute haben für diesen Fall Schätzungen vorgelegt, mit unterschiedlichen Annahmen und für unterschiedliche zeitliche Bezugspunkte. Am detailliertesten sind die Berechnungen der Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute. [3]
Dabei wird geschätzt, dass der Wachstumsverlust in 2023 mindestens 5,3 Prozent des BIP beträgt. Wenn dieser Effekt berücksichtigt wird, bedeutet dies, dass Deutschland nicht mehr wie im Baseline-Szenario um 0,8 Prozent wachsen würde, sondern das BIP um 4,5 Prozent schrumpfen würde. Damit befände sich Deutschland in einer schweren Rezession. Die Inflation würde in diesem Fall 8,2 Prozent in 2022 betragen, bevor sie auf immer noch hohe 6,2 Prozent zurückgehen würde. In den anderen beiden Szenarien liegt sie bei 7 Prozent im aktuellen Jahr und bei um die vier Prozent in 2023.
Auf einer sektoralen Ebene wären die Effekte je nach Gasabhängigkeit und -Verbrauch innerhalb des Industriesektors sehr unterschiedlich. Insgesamt sind die Grundstoffchemie, die Eisen- und Stahlindustrie sowie Raffinerien die größten Gas-Verbraucher. Dahinter folgen mit einigem Abstand die sonstige chemische Industrie, Ernährung, Papier, die Autobranche und die Nicht-Eisenmetalle. [4]
Damit wäre der Stopp der Gaslieferungen definitiv ein disruptives Ereignis für die deutsche Konjunktur im Ganzen und speziell für einzelne Sektoren; wie gravierend die Disruption ausfällt, hängt nicht zuletzt von der Effektivität der Gegenmaßnahmen ab. Ohne einen völligen Lieferstopp dürfte aber noch ein moderates Wachstum in 2022 zu erreichen sein.
[1] Economic Policy Uncertainty Index Deutschland.
Die Economic Trend Briefings analysieren die wichtigsten kurz- und langfristigen Herausforderungen sowie die relevantesten Trends für die deutsche Wirtschaft.