Das Comeback der Inflation im letzten Jahr kam unerwartet. Im Januar 2021 lagen die Inflationsprognosen von Banken und Forschungsinstituten für die Eurozone bei 0,9 Prozent. Im Durchschnitt des Jahres lag sie allerdings um fast das Dreifache höher, nämlich bei 2,6 Prozent. Dieser Wert verdeckt jedoch die aktuelle Inflationsentwicklung. Am Ende des Jahres lag die Inflation in der Eurozone auf einem Rekordwert von 5,0 Prozent – in Deutschland mit 5,3 Prozent sogar noch einmal etwas höher. Damit liegt Deutschland aber keineswegs an der Spitze der Inflationsentwicklung in der Eurozone, in Estland und Litauen ist sie mit 12 und fast 11 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Die dynamische und unerwartete Entwicklung zeigt sich auch darin, dass die Europäische Zentralbank die Inflation 2021 kontinuierlich unterschätzt hat und im Dezember die Prognose für 2022 auf 3,2 Prozent fast verdoppelt hat. Die neue Inflationsprognose liegt auch nahe an den Erwartungen der Unternehmen. Die deutschen und europäischen CFOs haben im Herbst eine Inflation von 3,2 beziehungsweise von 3,4 Prozent für 2022 erwartet, wie der Deloitte CFO Survey belegt.¹
Die steigende und sich beschleunigende Inflation war das Ergebnis eines „perfekten Sturms“, also des Zusammenspiels mehrerer Faktoren:
Im Hinblick auf die Inflation begann das Jahr nicht gut. Nach vorläufigen Schätzungen des Statistischen Bundesamtes betrug für Deutschland 4,9 Prozent im Januar. Das ist zwar ein leichter Rückgang, allerdings war erwartet worden, dass dieser deutlich höher ausfallen würde, nachdem die statistischen Effekte der Mehrwertsteuererhöhung aus der Inflationsberechnung im Januar 2022 herausgefallen sind. Vor allem die Energiepreise sind für den aktuellen Inflationsdruck verantwortlich.
Bei zwei anderen Faktoren, die die Inflation getrieben haben, gibt es dagegen erste vorsichtige Zeichen der Entspannung. Zum einen gilt dies für die Lieferkettenunterbrechungen: Laut dem Ifo-Institut ist der Anteil der Firmen in der Industrie, die über Materialmangel klagen, zurückgegangen, auch wenn er noch auf einem sehr hohen Niveau liegt. Aktuell beträgt er 67 Prozent, im November waren es noch 82 Prozent.² In eine ähnliche Richtung weisen die Daten des Einkaufsmanagerindex, nachdem die Industrieproduktion so stark ausgeweitet wurde wie seit fünf Monaten nicht mehr.³
Auch die Transportkosten könnten ihren Höhepunkt überschritten haben – der Baltic Dry Index, ein Index für die Preise, die bei der Verschiffung von Frachtgütern anfallen, ist seit Oktober sehr deutlich gefallen. Ebenso dürfte der Druck auf die Lieferketten durch die hohe Nachfrage nach Konsumgütern abflachen, wenn die derzeitige Pandemie-Welle abebbt und die Beschränkungen für den Dienstleistungssektor aufgehoben werden. Die Konsumenten dürften dann ihr Geld vor allem wieder für Dienstleistungen ausgeben und eher in den Urlaub fahren, als ein weiteres Elektronikgerät zu kaufen. Die meisten Konjunkturprognosen unterstellen, dass das Wirtschaftsleben nach dem ersten Quartal 2022 wieder schrittweise zur Normalität zurückkehrt.
Zwei Unsicherheitsfaktoren bleiben allerdings: In welche Richtung sich die Energiepreise bewegen, ist ungewiss, vor allem angesichts der geopolitischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Dazu kommt, dass mittel- und langfristig die Energiepreise durch die Dekarbonisierung tendenziell eher steigen dürften.
Auf dem Arbeitsmarkt ist aus Inflationssicht eine Lohn-Preisspirale die größte Gefahr. Der Arbeitsmarkt hat sich trotz der Krise sehr robust entwickelt. Die Arbeitslosenquote in Deutschland lag im Dezember 2021 mit 5,1 Prozent exakt auf dem Level vom März 2020, und der Fachkräftemangel ist laut dem Deloitte CFO Survey aktuell wieder das größte Risiko für Unternehmen. Die Situation sieht in vielen anderen Ländern, vor allem in den USA und im Vereinigten Königreich, ähnlich aus.
Auch wenn der Lohnanstieg im vergangenen Jahr noch moderat war, dürften durch diese Knappheiten künftig die Löhne schneller steigen, was dann wieder den Inflationsdruck verstärkt. Auch die geplante Anhebung des Mindestlohns um 22 Prozent auf zwölf Euro im Laufe des eben begonnenen Jahres wird die Lohnkosten steigen lassen. Schätzungen zum Lohnwachstum in Deutschland gehen von einer Steigerung zwischen drei und 3,5 Prozent für dieses Jahr aus.⁴
Allerdings ist das Timing entscheidend. Die großen Lohnverhandlungsrunden in Deutschland finden in der zweiten Jahreshälfte 2022 statt. Der aktuelle Tarifvertrag in der Metall- und Elektroindustrie läuft beispielsweise Ende September aus, der für den öffentlichen Dienst Ende Dezember. Es ist zu erwarten, dass die erhöhten Inflationsraten in die Lohnforderungen mit eingehen werden. Das heißt: selbst wenn die Inflation in der zweiten Jahreshälfte wegen Entspannung bei den Lieferketten zurückgehen würde, könnte es sein, dass sich die Treiber der Inflation ändern und die Inflation dann durch höhere Lohnabschlüsse getrieben wird. Neben den Tarifrunden wird ebenfalls wichtig sein, wie sehr die gestiegene Inflation sich auf die Löhne der nicht tariflich gebundenen Arbeitnehmer auswirkt.
Der Inflationsausblick der Europäischen Zentralbank geht davon aus, dass die Inflation in der Eurozone im Durchschnitt 2022 knapp über drei Prozent liegt, aber Ende des Jahres knapp unter zwei Prozent fallen wird, wo sie dann auch 2023 und 2024 bleiben soll.⁵ Die Risiken für den Ausblick zeigen sich allerdings schon in den Januar-Daten, die mit 5,1 Prozent für die Eurozone deutlich höher ausfielen als erwartet.
In historischer Perspektive waren Lohnsteigerungen ohne entsprechende Produktivitätssteigerungen und eine „Entankerung“ der Inflationserwartungen die beiden wichtigsten Faktoren für langanhaltende Preissteigerungen, zumindest laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der Zentralbank der Zentralbanken.⁶ Dafür, dass die Inflationserwartungen sich mittelfristig von den Zielen der Zentralbanken deutlich wegbewegen, gibt es aktuell keine eindeutigen und belastbaren Belege. Der größte Unsicherheitsfaktor ist daher die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten, die für die weitere Inflationsentwicklung und auch für die Reaktionen der Zentralbanken entscheidend sein werden.
¹ Deloitte CFO Survey Herbst 2021. Executive Agenda: Digitale Investitionen und CO2-Management. https://www2.deloitte.com/de/de/pages/finance-transformation/articles/cfo-survey.html
² Ifo Institut. Materialmangel in der Industrie etwas entschärft. 31.1.2022. https://www.ifo.de/node/67761
³ IHS Market Flash EMI Deutschland. Deutsche Wirtschaft zeigt sich zu Beginn des Jahres 2022 überraschend widerstandsfähig. 24.1.2022.
⁴ ING. Stars align for Eurozone Wage Growth Rebound., 20 January 2022.
⁵ European Central Bank. Eurosystem Staff Macroeconomic Projections for the Euro Area, Dezember 2021.
⁶ BIS Bulletin 43. Global Reflation?. Bank for International Settlements, July 2021
Die Economic Trend Briefings analysieren die wichtigsten kurz- und langfristigen Herausforderungen sowie die relevantesten Trends für die deutsche Wirtschaft.