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Economic Trend Briefing: Globale Lieferketten vor dem Umbau

Lieferketten sind die Lebensadern der Weltwirtschaft. Seit der Corona-Pandemie und verstärkt durch den Ukraine-Krieg sowie handelspolitische Spannungen sind die global vernetzten Lieferketten allerdings stark unter Druck geraten. Dies hat vielfältige Auswirkungen. Die Störungen in den Lieferketten haben nicht nur Knappheiten und Preissteigerungen zur Folge, sondern sind auch einer der Treiber der hohen Inflationsraten in Deutschland und Europa.

Aktuell sind Anzeichen erkennbar, dass sich die Lage der globalen Lieferketten langsam entspannt. Mittel- und langfristig gibt es allerdings ganz neue Herausforderungen, vor allem geopolitische Risiken, die das globale Lieferkettennetz belasten dürften. Es zeichnet sich ab, dass Unternehmen darauf vor allem mit einer Diversifizierung der Zulieferketten reagieren, weniger mit einem Rückzug aus den globalen Märkten.

 

Druck auf die weltweiten Lieferketten nimmt ab

 

In der Hochphase der COVID-19-Pandemie kam es zu massiven Lieferkettenengpässen. Zwar fiel wegen der Lockdowns die Nachfrage nach Dienstleistungen, jedoch stieg die nach Konsumgütern enorm an, insbesondere nach Elektronik für die Unterhaltungsindustrie. Gleichzeitig konnten die Lieferanten diese Bestellungen aufgrund der Schließungen von Fabriken, insbesondere in Asien, nicht voll bedienen. Wegen der steigenden Nachfrage in Europa und den USA nach Gütern vor allem aus Asien entstanden auf dem Seeweg noch dazu Staus vor den großen Häfen, etwa in Los Angeles. Hinzu kam das Corona-krankheitsbedingte Fehlen vieler Hafenarbeiter, was die Löschung der Container verlangsamte.

Die derzeitige Situation zeigt aber, dass die Hochphase des Drucks auf die globalen Lieferketten vorbei ist. So erreichte der Global Supply Chain Pressure Index (GSCPI) der New Yorker Zentralbank, der den Druck auf die globalen Lieferketten misst, im Dezember 2021 mit einem Wert von 4,3 seinen Höhepunkt (siehe Abbildung 1).¹ Mit Ausnahme des Aprils 2022 ist der Index in diesem Jahr bis zum September stetig auf einen Wert unter 1 gesunken, was auf eine Entspannung der globalen Lieferketten hindeutet, wenn auch im Vergleich zur Phase vor der Pandemie auf erhöhtem Niveau. Der minimale Anstieg im November 2022 ändert am grundsätzlichen Bild wenig.

Der Kieler Handelsindikator, der Engpässe in der weltweiten Schifffahrt anzeigt, deutet ebenfalls auf eine Entspannung der Lage hin (siehe Abbildung 2). Nach einem Höchststand im März 2022 unmittelbar nach Beginn des Ukraine-Krieges lag der Anteil der weltweit auf wartenden Containerschiffen verschifften Waren seit April konstant bei rund elf Prozent. Jedoch fiel dieser Anteil von September bis November auf neun Prozent ab. Dies deutet darauf hin, dass sich der nachlassende Druck auf die Lieferketten, der sich im Global Supply Chain Pressure Index widerspiegelt, auch in der Containerschifffahrt bemerkbar macht; und es signalisiert, dass sich die seit zwei Jahren anhaltenden Engpässe entspannen.

Die nächste Phase der Lieferketten-Herausforderungen

 

Für eine vollständige Entwarnung ist es allerdings deutlich zu früh, insbesondere wenn man bestimmte Branchen betrachtet. Eine Studie des Ifo-Instituts hat ergeben, dass im Juni diesen Jahres, also zu einer Zeit, als der Druck auf die Lieferketten bereits nachließ, 74 Prozent der Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe Probleme bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen hatten. Im Maschinenbau und in der Automobilindustrie lag der Anteil sogar bei 91 bzw. 90 Prozent.² Im Durchschnitt erwarten die Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, dass dieser Mangel an Vorprodukten noch zehn Monate anhalten wird. Bei Computern und sonstigen IT-Geräten dürfte die Materialknappheit noch zwei Monate länger andauern, was insbesondere auf die Krise in der Halbleiterindustrie zurückzuführen ist. Auch in der Automobilbranche rechnen die Unternehmen mit einem längeren Engpass von knapp einem Jahr. In der Metallerzeugung und -verarbeitung werden die Engpässe mit durchschnittlich sieben Monaten voraussichtlich kürzer ausfallen.

Zwar ist der weltweite Nachfragedruck, der auf das geringe weltweite Angebot trifft, nicht mehr so stark wie zuvor. Denn zum einen hat sich die Nachfrage von Waren auf Dienstleistungen verlagert, zum anderen hat sich die Produktion nach den Lockdowns wieder erholt. Es zeichnen sich jedoch weitere Herausforderungen am Horizont ab. So besteht zum Beispiel nach wie vor die Gefahr neuer Lockdowns in China aufgrund der Null-Covid-Strategie, die das weltweite Angebot durch vorübergehende Werks- und Hafenschließungen erneut erheblich reduzieren und damit die Materialknappheit verschärfen könnten.


Darüber hinaus zeigt gerade der Konflikt in der Ukraine, wie stark die Wertschöpfungsketten von geopolitischen Risiken abhängig sind. Vor allem Unternehmen in Europa sind in erheblichem Maße geopolitischen Risiken ausgesetzt. So kann sich beispielsweise der Handelskonflikt zwischen den USA und China, insbesondere im Halbleitersektor, negativ auf die Lieferketten auswirken. Es besteht auch das Risiko eines wachsenden Handelskonflikts zwischen Europa und den USA aufgrund des Inflation Reduction Act, der unter anderem Zuzahlungen für den Kauf von Elektroautos an die Produktion in den USA knüpft.³

 

Diversifizierung statt Rückzug

 

Auch der aktuelle Deloitte CFO Survey, eine im Herbst 2022 durchgeführte Befragung von 124 CFOs deutscher Großunternehmen, belegt, dass geopolitische Risiken eine besondere Herausforderung für Unternehmen darstellen. Im Gegensatz zur letzten Umfrage im Frühjahr 2022 stellen sie zwar nicht mehr den wichtigsten Risikofaktor für die Breite der Unternehmen dar. Allerdings sind geopolitische Risiken für 69 Prozent der Unternehmen ein hohes Risiko auf Sicht von zwölf Monaten. Und für Unternehmen mit einem Umsatz von über einer Milliarde Euro bleiben sie weiterhin das größte Risiko.

Die Unternehmen reagieren auf diese neuen Realitäten mit einer klaren Strategie. Die Diversifizierung der Lieferketten ist dabei der Königsweg (siehe Abbildung 3). So planen 48 Prozent der befragten Unternehmen, ihre Lieferketten zu diversifizieren. Im verarbeitenden Gewerbe ist das Bild noch deutlicher: Über zwei Drittel der Firmen beabsichtigen, ihre Wertschöpfungsketten breiter aufzustellen. Betrachtet man die einzelnen Branchen genauer, so planen in der chemischen Industrie 91 Prozent der Unternehmen und in der Automobilindustrie 67 Prozent, ihre Lieferketten zu erweitern. Knapp ein Drittel der Firmen will versuchen, die relevanten Märkte verstärkt aus den jeweiligen Regionen zu bedienen, also den regionalen Einheiten eine höhere Autonomie zu geben.

Ein Rückzug von den globalen Märkten ist für die große Mehrheit der Unternehmen kein Thema. Die Re-Lokalisierung von Lieferketten und der Rückzug aus Märkten mit hohen politischen Risiken werden nur von einem Fünftel der Unternehmen geplant.

Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Lieferketten trotz der momentanen Entspannung vor einem tiefgreifenden Umbau und einer Diversifizierung stehen, aber nicht unbedingt vor einer Deglobalisierung. Der Umbau der Lieferketten könnte sogar den gegenteiligen Effekt haben, nämlich den einer erhöhten Globalisierung, wenn die Wertschöpfungsstufen über mehr Länder als bisher verteilt werden. Daher ist es deutlich zu früh, das Ende der Globalisierung auszurufen. Vielmehr wird von entscheidender Bedeutung sein, wie Unternehmen die neuen politischen Risiken managen.

¹ Der Global Supply Chain Pressure Index umfasst mehrere Indikatoren zur Erfassung von Unterbrechungen in den Lieferketten, wie beispielsweise die globalen Transportkosten über den Baltic Dry Index (BDI) und den Harpex-Index sowie Luftfrachtkostenindizes. Ebenso werden lieferkettenbezogene Komponenten wie Lieferzeiten, Rückstände und eingekaufte Bestände erfasst.

² Ifo Institut (2022), Unternehmen erwarten Materialknappheit bis 2023, https://www.ifo.de/pressemitteilung/2022-06-29/unternehmen-erwarten-materialknappheit-bis-2023

³ The Economist (2022), Germany mulls breaking subsidy taboo to avoid trade war with Biden, https://www.politico.eu/article/germany-mull-break-subsidy-taboo-avoid-us-trade-war/

 

Ansprechpartner Research:

Dr. Timo Walter

Associate Manager | Economics

twalter@deloitte.de