Es kann so schnell gehen. Dabei lief doch bislang alles immer in sicheren Bahnen. Die Claims auf dem Markt waren abgesteckt, die Geschäftsmodelle etabliert, die Umsätze vorhersehbar. Inkrementelle Verbesserungen am Produkt reichten für den entscheidenden Vorsprung beim Kunden. Und nun tauchen plötzlich kleine, flinke digitale Schnellboote links und rechts des trägen Supertankers auf und kapern immer größere Teile des Geschäfts. Nicht nur das: Auch sozial und politisch hat die Digitalisierung umwälzende Folgen, auf die sich Firmen einstellen müssen, sowohl in Hinblick einer veränderten Nachfrage als auch in der Rolle eines verantwortlichen Treibers für eine positive Zukunftsentwicklung. Was tun? Völlig klar – große Unternehmen können nicht einfach alles Bisherige über Bord werfen und sich über Nacht als Start-up neu erfinden. Einfach auf dem gewohnten Kurs zu verharren, ist aber auch keine Option, denn das führt zunehmend ins Abseits.
Der Ausweg: das Beste von beiden Welten – und beides zugleich. Noch während der Umsatzmotor des etablierten Business kräftig weiter brummt, werden die Fühler in die neue digitale Welt ausgestreckt, innovative Geschäftsmodelle aufgespürt und am Markt erprobt – und das alles im Dialog, durch Kooperation, im Austausch. Das lebendige Ecosystem der Märkte liefert nämlich selbst mögliche Antworten auf die Zukunftsfragen. Es muss nur clever „angezapft“ werden. Ein solcher Zugriff auf externen Innovations-Input ist laut Studien zu einem immens wichtigen Faktor geworden: Etwa 75% aller disruptiven Produkt-Innovationen entstehen auf diesem Weg. Verstärkte digitale Kooperation zwischen Großunternehmen und Start-up-Unternehmen könnte anderen Quellen zufolge ein zusätzliches BIP von bis zu 1,5 Billionen US-Dollar global generieren. Ein höchst vielversprechender Ansatz!
Was besagt dabei eigentlich das der Biologie entlehnte Bild vom Ökosystem? Es handelt sich um ein reichhaltiges, adaptives und widerstandsfähiges Geflecht von Organismen. Sie stehen in verschiedenartigsten Wechselbeziehungen, von Symbiose über Kollaboration bis zu Wettbewerb. Ähnlich fruchtbar ist auch das Umfeld heutiger Unternehmen. Diese müssen nur ihr Selbstverständnis ändern. Sie sind kein abgekapseltes System mehr, das sich durch seine Abgrenzung zu externen Experten und Wettbewerb definiert. Die Grenzen dieses Binnensystems werden nun zur durchlässigen Membran, offen für den Austausch von Ideen und Gütern wie eine Zellwand für Nährstoffe. Ein Nehmen, zu dem natürlich auch ein Geben gehört. So entstehen dann attraktive Möglichkeiten, mit dem explodierenden technologischen Fortschritt mitzuhalten – beispielsweise durch Start-up-Investment, -Erwerb oder -Kooperation. Für die Experten von Deloitte ist klar: In der Digital Economy ist solche Offenheit ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Doch wie sieht die Umsetzung konkret aus? Wie können sich Unternehmen öffnen und den Boden für Innovation fruchtbar machen? Im Folgenden stellen wir mehrere Dimensionen aus dem weiten Feld der Ecosystems vor, in denen Unternehmen ihre Assets effizienter nutzen und ihre Wertschöpfungsketten transformieren.
Zusammenarbeit von Unternehmen ist an sich nichts Neues. Doch der Ecosystems-Ansatz liefert neue, komplexe Modelle, die eine Vielzahl von Marktteilnehmern ins Boot holen und mit flexibler, adaptiver Struktur den Anforderungen der Digital Economy genügen. Ein Beispiel dafür liefert der US-Finanzdienstleister Mastercard Inc. Traditionell basiert dessen Geschäft schon immer auf einem Ecosystem, in dem viele Unternehmen interagieren. Es handelt sich dabei aber um ein zentralisiertes System, bei dem Mastercard als dominanter Broker eine große Anzahl von Firmen nahtlos in den Kosmos der eigenen Bezahltechnologie einbindet. Um von externen Innovationen zu profitieren, setzt Mastercard jetzt jedoch auch auf einen anderen Weg – adaptive Ecosystems, und zwar im Bereich Transport. In einer weltweiten Zusammenarbeit mit Städten, Verkehrsbetrieben und Technologiepartnern entwickelt Mastercard flexible digitale Bezahllösungen für den Nahverkehr, die spezifisch auf die Bedürfnisse der lokalen Infrastruktur und Nutzer zugeschnitten sind: etwa die kontaktlose Fahrtkosten-Abrechnung per Smartcard in der Londoner U-Bahn oder eine in Bogota genutzte Lösung, wo die Kreditkarte zugleich als Busfahrkarte dient.
Ecosystems eröffnen neue Formen des Wissens. Vernetzte, kollaborative Ansätze wie Wikipedia sind ein Riesenerfolg. Wenn sich ein interaktives Kollektiv einem Projekt widmet, kann der Einzelne mit überschaubarem Aufwand Wertvolles beitragen. Und noch wichtiger: das Ergebnis überzeugt qualitativ, denn durch die Vielzahl an Mitwirkenden ergibt sich eine weitgehend objektive, effiziente und selbstregulierende Qualitätskontrolle. Diese „Weisheit der Vielen“ können auch Unternehmen nutzen und etwa Produktentwicklung zum Community-Projekt machen. Der Spielzeughersteller LEGO A/S ist ein bekanntes Beispiel für eine erfolgreiche Beteiligung der Kunden. Auf eine höhere Stufe hebt die französische Firma Agorize SAS diesen Ansatz: Sie hat die Vermittlung von Expertise im Ökosystem selbst zu ihrem Geschäftsmodell gemacht. Agorize bietet eine Innovation Challenger Plattform für Unternehmen und Entwickler an, auf der Experten Aufgaben annehmen und lösen sowie dafür auch auf die Community zurückgreifen. Am besten gelingt die Zusammenarbeit von Experten, wenn die Projekte für die Beteiligten wichtige Themen betreffen und eine fachlich spannende Herausforderung darstellen. Das zeigen auf faszinierende Weise die Mitarbeiter der deutschen Firma PTScientists. Eine aufsehenerregende Mission dieser „New Space Company“ ist ein echter „Moonshot“ im Wortsinn: einen unbemannten Mond-Rover mit dem Raumfahrzeug „Alina“ auf den Erdtrabanten zu schicken (geplanter Termin: Ende 2019). Dafür stellten die „Part Time Scientists“ ein hochkarätiges Team zusammen. Diese Experten erklärten sich aus reinem Enthusiasmus bereit, 20 Prozent ihrer Arbeitszeit unentgeltlich zur Verfügung zu stellen – bis solche Projekte die kritische Masse erreicht haben, um genug Förderung anzuziehen. Bislang ein großer Erfolg.
Ecosystems erschließen neue Grundlagen fürs Geschäft – in der Plattform-Ökonomie, durch Kuration von unterschiedlichen Akteuren. Erfolgreiche Unternehmen erweitern dabei ihre Geschäftsmodelle in neue Dimensionen. Ob für Energy Provider oder Telekom-Konzerne, Transportunternehmen oder Automobil-Zulieferer: die Chancen sind riesig. Schon heute verkaufen fortgeschrittene Player längst nicht einfach mehr nur linear Produkte und Dienste. Stattdessen denken sie mehrdimensional und werden zum Anbieter von komplexen Lösungen. Der 3D-Dienstleister Shapeways, Inc. verbindet in seinem Ökosystem Anwender mit Drittanbietern und Logistikunternehmen und generiert damit Mehrwert für alle Beteiligten. Retailer entwickeln sich vom konventionellen Händler zum Plattform-Dienstleister und verschaffen so ihrem Geschäft neue Impulse. Ein etablierter Handelskonzern wie die Otto Group kreiert bahnbrechende E-Commerce-Ökosysteme, die das Tor zur digitalen Zukunft weit aufstoßen. Auf der Plattform können dabei auch konkurrierende Geschäftsmodelle koexistieren – wie beim Amazon Marketplace längst im Web üblich. Ein zentraler Vorteil der Plattform-Ökonomie: Eigene Assets können dank höherem „Hebel“ viel effizienter eingesetzt werden.
In den Ecosystems fluktuieren natürlich nicht nur Ideen und Güter, sondern auch Menschen. Deshalb müssen heute neue Arbeitsweisen gestaltet werden. Die Bedeutung des festangestellten Mitarbeiters verblasst. Laut Prognosen werden im Jahr 2027 58 Prozent der US-Arbeitnehmer als Freelancer tätig sein. Flexiblere Beschäftigungsmodelle sind interessant für Unternehmen, da sie so schneller auf Marktentwicklungen reagieren können. Trotz mancher arbeitsrechtlicher und sozialpolitischer Fragezeichen sind sie aber auch vorteilhaft für die immer begehrteren Experten und Fachkräfte, die sich nur projektweise engagieren lassen wollen. Oft befinden sich heutzutage die besten Mitarbeiter einer Firma gar nicht mehr auf der eigenen Payroll. Gute Mitarbeiter zu finden, wird für etablierte Unternehmen im Wettbewerb mit jungen, dynamisch-„coolen“ Start-ups allerdings nicht gerade einfacher. Eine zeitgemäße digitale Firmenkultur mit entsprechendem Arbeitsstil hilft beim Recruitment. Eine naheliegende Option, um den Personalpool für die digitalen Herausforderungen fit zu machen, ist aber auch die Aktivierung schlummernder Reserven in der schon bestehenden Workforce – die Suche nach „hidden talents“ (Intrapreneurship). Dabei können auch technologische Tools wie die Apps von Staffbase hilfreich sein. Dieses Start-up verbessert die interne Kommunikation mit teilweise schwer erreichbaren Mitarbeitern durch Funktionen wie personalisierte Inhalte, Chats und Umfragen.
Der Fortschritt wächst heute exponentiell. Kaum ein großes Unternehmen kann seinen Innovationsbedarf noch durch eigene Entwicklungen abdecken. Zumal sich Disruption schwer am Reißbrett planen lässt. Sie ist vielmehr die Domäne der Start-ups. Paradoxerweise können bekanntlich diese viel kleineren Zwerg-Unternehmen Innovation viel besser als die etablierten Dickschiffe. Sie sind flexibel, unglaublich schnell und haben den richtigen Riecher für neue Zielgruppen. Sie können sich mit leichtem Kosten-Gepäck ganz auf die „Moonshots“ konzentrieren, die sie mit aller Leidenschaft zum tragfähigen Geschäftsmodell entwickeln wollen. Sie müssen keine Rücksicht auf Legacy-Technologien, Personal-Apparate oder die Belange konventioneller Produktion nehmen. Dafür fehlt es ihnen andererseits an Kundenzugang, Daten und etablierten Strukturen. Kein Wunder, dass sich die Interaktion zwischen großen Unternehmen und Start-ups als einer der wichtigsten Pfade zu einem produktiven Ökosystem herauskristallisiert hat. Sie ist der logische Schritt, um unter Bedingungen steigender Komplexität Wettbewerbsvorteile zu sichern.
Daher gründen interessierte Unternehmen immer mehr Start-up-Vehikel wie Acceleratoren, Incubators oder Innovation Hubs. Jungunternehmer werden gefördert, gecoacht, vernetzt. Und die Ergebnisse werden nicht nur mit branchenfremden Unternehmen geteilt, die an einem Hub beteiligt sind, sondern womöglich sogar mit der Konkurrenz. Ein Bereich, der seit Jahren auch in Deutschland boomt. Auch der Staat mischt kräftig mit, etwa mit der Innovationsplattform für die Energiewende „Start up Energy Transmission.“
Eine ungetrübte Erfolgsstory ist das alles aber nicht automatisch und in jedem Fall. Denn manche Unternehmen sind nach einigen Jahren nicht uneingeschränkt glücklich mit den bisherigen Ergebnissen der Start-up-Kooperation. Auch in anderen Verästelungen der Ökosystem-Kollaboration lauern Sackgassen. Im Folgenden diskutieren wir einige der typischen Hürden, die nach der Erfahrung der Experten von Deloitte beim Aufbruch ins Ecosystem und insbesondere bei der Zusammenarbeit mit Start-ups beachtet werden sollten.
Von Produktion bis zu Marketing, von Entwicklung bis zu Support, von Retail über Food bis Energy: entlang der gesamten Wertschöpfungskette und in so gut wie allen Branchen ergeben sich Perspektiven zur Öffnung des Unternehmens. Doch es gibt viele Fallstricke im kreativen „Dschungel“ der Ecosystems. „Öffnung“ bedeutet, die klassischen Grenzen des Unternehmens zu überschreiten oder zumindest aufzuweichen. Damit werden aber auch gewohnte Management-Maximen obsolet. Wie geht eine Firma etwa mit geistigem Eigentum um, das sie plötzlich Außenstehenden zugänglich machen soll? Wie funktioniert Prozesssteuerung mit externen Mitarbeitern? Wie können offenere Organisationen überhaupt effizient geführt werden? Wie sieht es mit dem Risiko-Management aus, mit Compliance, Tax und Reporting? Besteht nicht auch das Risiko, viel Geld mit der Förderung von Start-up-Hoffnungsträgern zu verbrennen, die sich dann eines schönen Tages als Eintagsfliege herausstellen? Warum heute einige etablierte Unternehmen nach ersten Erfahrungen im Start-up-Scouting nicht wirklich zufrieden mit dem Erfolg sind und was daraus zu lernen ist, soll im Folgenden etwas genauer beleuchtet werden. Aus Sicht von Deloitte sind diese Punkte besonders wichtig:
- Klare Definition der Zielrichtung
Start-ups sind seit einigen Jahren der letzte Schrei. Doch der ganze Hype hat letztlich auch dazu geführt, dass manche Engagements der Anfangszeit letztlich eher aus „modischen“ Gründen oder gewissermaßen aus Peer Pressure eingegangen worden sind. Die Konsequenz ist klar: Vorab muss unbedingt geklärt werden, was eigentlich von einem Start-up- oder Innovationsprojekt erwartet wird. Will das interessierte Unternehmen revolutionäre Technologie? Frische kulturelle Impulse? Dynamische neue Mitarbeiter?
- Einsatz der richtigen Metriken an den richtigen Stellen
Wilde Sprünge statt berechenbarer Zyklen, Boom-and-Bust statt linearem Wachstum: Disruption funktioniert einfach anders als das herkömmliche Geschäft. Doch komplett unkontrolliert wuchern kann ein Unternehmen seine kreativen „Moonshots“ auch nicht lassen, wenn es herbe Enttäuschungen und fette Rechnungen vermeiden will. Zu wenig Geld oder zu viel Geld: beides kann eine Investition in Innovation gefährden! Zum Erfassen und Bewerten des Erfolgs sind daher neue, dynamische Metriken nötig, die starre Business-Plan-Logiken überschreiten. Wenn das Ziel einer Kooperation also festgelegt ist, müssen auch Erfolgskriterien geschaffen werden, mit denen seine Erfüllung eindeutig definiert wird. Wichtig ist dabei eine aktive Anpassung der Kriterien entlang der Zeitachse des Innovationszyklus. Während der Ideenfindung ist zu viel Datendichte eher schädlich, qualitative Aspekte stehen im Fokus. Später nimmt die Datendichte dafür zu, es werden mehr quantitative KPIs eingesetzt. Projektziele wie Minimal Viable Products und vielfache Iterationen liefern nachprüfbare Meilensteine.
- Zu enge Aufstellung
Ein verbreiteter Fehler bei der Suche nach externen Innovationen: Der gewählte Blickwinkel ist zu eng. In den „Trichter“ des Start-up-Vehikels werden zu wenige Kandidaten „gefüllt“. Aber mit zehn oder weniger Ideen kommt man nicht weit. Oft gilt: Je mehr Teilnehmer, desto besser.
- Effektives Vernetzen der Aktivitäten
Sich mit einigen Start-ups verbinden? Das allein schafft noch kein echtes Netzwerk. Unternehmen sollten sich auch mit anderen großen Unternehmen zusammentun. Sowohl Kosten als auch Ergebnisse werden dann geteilt. Intellectual Property kann dabei allen gleichermaßen zur Verfügung stehen oder auch von einzelnen Akteuren „herausgekauft“ werden. Zu empfehlen ist dabei oft ein cross-industry Ansatz.
Inspirierende Beispiele gibt es viele – so etwa die Startup-Autobahn. An dieser Plattform für Mobilitäts-Innovation sind Partner aus der Automotive-Branche beteiligt (Daimler AG, Porsche AG, ZF Group AG), aber auch aus dem Dienstleistungssektor (Deutsche Post DHL Group), der Chemieindustrie (Linde plc, BASF SE) oder dem Bereich IT /Services (Hewlett Packard Enterprise, DXC). Was man aber bei aller berechtigten Begeisterung für Vernetzung und Innovation nicht übersehen sollte: Die Verbindung zum Stammgeschäft und die Erneuerung der etablierten Unternehmensprozesse erfordert ein übergreifendes Handeln – sowohl agile, innovative Aktivitäten als auch optimierende, stabilisierende Geschäftsaktivitäten müssen parallel stattfinden.
Es sind faszinierende Zeiten. Ungeahnte Möglichkeiten locken hinter jeder Wegkurve. Ganze Märkte sind in Aufruhr. Wer hier als Unternehmen mitmischen oder auch nur über die neusten Trends Bescheid wissen will, muss sich beteiligen. Sonst besteht die Gefahr, schlicht abgehängt zu werden. Innovationskultur ist heute eine Überlebensfrage. Die innovative Expertise kann dabei selbst entwickelt, im Incubator „gebrütet“, zugekauft oder als Dienstleistung in Anspruch genommen werden. Letzteres natürlich auch von den Experten von Deloitte. Sie sind mit der Exploration der neuen Dimensionen der Ecosystems an vorderster Front vertraut. Deshalb können sie beim Vordringen in Start-up-Gefilde wertvolle Orientierung und Hilfestellung geben. Mit Projekten wie dem Innovation Tech Terminal (ITT) von Deloitte Israel wurden eigene Ökosysteme entwickelt, die sich strukturell auf verschiedene Umfelder adaptieren lassen. Dank des tiefen Know-hows und der breiten internationalen Erfahrung von Deloitte können die typischen Fehler beim Start-up-Scouting vermieden werden. Dann wird die Öffnung des Unternehmens zum Denken und Handeln in Ecosystems zu einem echten Win-Win – für alle, die an diesem zukunftsweisenden Prozess mitwirken.