Herr Polster, die Einführung der Emissionszertifikate in Deutschland vor 15 Jahren war zunächst eine staatliche Maßnahme, die auf geringe Akzeptanz traf. Was hat sich seitdem verändert? Welche Einstellung haben Unternehmen in Bezug auf Nachhaltigkeit entwickelt?
Niklas Polster: Deutschland will bis 2030 55 Prozent weniger klimaschädliche Treibhausgase ausstoßen und bis 2050 sogar weitgehend treibhausgasneutral sein. Um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen, setzt die Bundesregierung vorrangig auf die Förderung regenerativer Energiequellen und gleichzeitig verstärkt auf das Instrument des Zertifikatehandels für Emissionen. Im Stromsektor hat die Förderung des Erneuerbaren Energiegesetz (EEG) dabei sehr stark zum Ausbau nachhaltiger Energiequellen beigetragen. Auch die Wirkung des europäischen Zertifikatehandels hat sich in den letzten Jahren verstärkt. So hat der Preis der europäischen Emissionszertifikate (EUA) im Februar dieses Jahres erstmalig die 40 EUR-Marke überschritten.
Mit dem seit Anfang 2021 geltenden nationalen Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) soll der Zertifikatehandel nun auf die Sektoren Wärme und Verkehr ausgeweitet werden. Zudem läuft die Förderung des EEG ab 2021 für erneuerbare Anlagen aus, was die Bedeutung der Grünstromzertifikate für förderfreie Anlagen verstärkt. Auf Seiten der Unternehmen hat sich in den letzten Jahren eine nachhaltige Identifizierung mit der Notwendigkeit zur Dekarbonisierung eingestellt. In der Vergangenheit haben Unternehmen vor allem große Fortschritte im Bereich der Energieeffizienz erreicht, wodurch nun die Themen Schadstoffemissionen und erneuerbare Energie in den Fokus rücken.
Wo liegt der wesentlicher Unterschied zwischen Emissions- und Grünstromzertifikaten und worauf müssen Unternehmen insbesondere bei der Bilanzierung beachten?
Niklas Polster: Die Funktionsweisen des jeweiligen Zertifikatshandels unterscheiden sich voneinander. Die Gesetze zu Emissionszertifikaten verpflichten Unternehmen, welche entweder Emissionen ausstoßen (EU ETS) oder Brennstoffe in den Verkehr bringen (BEHG), für jedes emittierte CO2-Äquivalent (Tonne/Liter) ein gültiges Zertifikat zu erwerben und vorzulegen. Die nationalen Brennstoffemissionszertifikate werden ab diesem Jahr bpsw. für einen Festpreis von 25 Euro/t veräußert. Zum 30.09 des Folgejahres müssen die Verpflichteten dann die Emissionsberechtigungen in Höhe ihrer tatsächlichen Emissionen des vorangegangenen Jahres vorhalten.
Die Funktionsweise der Grünstromzertifikate oder Herkunftsnachweise (engl. Guarantees of Origin) basiert dagegen nicht auf einem zusätzlichen Kostenfaktor, sondern versucht den ideellen Mehrwert erneuerbarer Energie messbar, zugänglich und handelbar zu machen. Da der im Netz verfügbare Strom ein Mix aus erneuerbarer und fossiler Energie darstellt, die sich physisch nicht separieren lässt, bedarf es zur Nachvollziehbarkeit der Herkunft solcher Zertifikate.
Durch den Erwerb der Grünstromzertifikate können Unternehmen somit einen Beitrag zur Förderung der erneuerbaren Energien leisten – ohne zwingend physischen Strom unmittelbar aus einer erneuerbaren Anlage bezogen zu haben.
Das Preisniveau der Herkunftsnachweise war insgesamt mit ca. 1-2 EUR/MWh bisher unattraktiv im Vergleich zur EEG-Förderung. Mit dem Auslaufen des EEG in 2021 und den deutlich verringerten Produktionskosten von Ökostrom ist von deutlich zunehmender Nachfrage nach deutschen Herkunftsnachweisen auszugehen. Dies zeigt sich in jüngster Vergangenheit im deutlichen Anstieg des Abschlusses bilateraler Stromlieferverträge (sog. Power Purchase Agreements bzw. PPA) im erneuerbaren Bereich.
Im Rahmen der Bilanzierung der Brennstoffemissionszertifikate lässt sich auf die Bilanzierungspraxis der europäischen Emissionszertifikate nach HGB und IFRS grundsätzlich zurückreifen, wobei sich hier verschiedene Ansätze im internationalen Kontext herausgebildet haben. Für die Inverkehrbringer, wie Energieversorgungsunternehmen, ergeben sich detailliertere Fragestellungen im Rahmen der Bilanzierung der erworbenen Zertifikate sowie der Ermittlung der Abgabeverpflichtung.
Für Grünstromzertifikate existiert bisher keine etablierte Bilanzierungspraxis, weshalb eine einzelfallbezogene Analyse jeweils aus Sicht der betroffenen Unternehmen (Anlagenbetreiber, Energieversorger und Verbraucher) vorzunehmen ist. Energierechtlich heben sich Grünstromzertifikate deutlich von den Emissionsberechtigungen ab, weshalb die Bilanzierungsmethoden für die Emissionszertifikate nicht grundsätzlich analog angewandt werden können. Vielmehr ist in Abhängigkeit des zugrundeliegenden Geschäftsmodells zu erörtern in wieweit es sich um immaterielle Vermögenswerte oder Vorräte handeln könnte. Zudem ergeben sich Herausforderungen bei der Bewertung der Grünstromzertifikate.
Wie drückt sich die gestiegene Bedeutung der Nachhaltigkeitsberichterstattung aus?
Niklas Polster: Als Folge des politischen Engagements zur Verwirklichung der Klimaziele weitet sich spürbar ein allgemeines Nachhaltigkeitsbewusstsein in den Unternehmen aus. Die Zuwendung zur Nachhaltigkeit erfolgt über die gesetzliche Verpflichtung des § 289b HGB oder den Anforderungen zum Lagebericht hinaus aber nicht aus reinem Idealismus. Neben der Steigerung von Transparenz und Reputation dient die Nachhaltigkeitsberichterstattung der Positionierung im Wettbewerb und trägt zur Attraktivität der entsprechenden Unternehmen als Arbeitgeber oder als Geschäftspartner bei. Damit wird das Thema Nachhaltigkeit implizit ein wichtiges Mittel zur Erreichung des übergeordneten Zwecks der unternehmerischen Betätigung, der Maximierung des Unternehmenswertes. Die Zertifikate sind dabei ein wichtiges Mittel auf dem Weg zur Klimaneutralität.
Im Rahmen der Berichterstattung wird vermehrt auf die Leitlinien der Global Reporting Initiative (GRI) zurückgegriffen. Dabei wird bspw. der Energieeinsatz aus den erneuerbaren Quellen nach GRI-302-1 transparent dargestellt, in Form von genauen Angaben zur Herkunft des Stroms und der relevanten Erzeugungsanlagen (z.B. Solarparks oder Windparks). Der Einsatz der Zertifikate erhöht aufgrund der Quantifizierbarkeit der Informationen die Aussagekraft und Messbarkeit der nicht-finanziellen Berichterstattung.
Herr Dr. Brüggemann, wie unterstützt Deloitte Unternehmen bei energiewirtschaftlichen Fragestellungen im Rahmen der Bilanzierung?
Dr. Benedikt Brüggemann: Das große Ziel der Klimaneutralität bis 2050 bleibt auch in der Bilanzierung nicht ohne Folgen. Im Gegenteil – es ist tut sich gerade sehr viel. Zum einen führen staatliche Lenkungsmechanismen wie das Brennstoffemissionshandelsgesetz zu immer neuen Herausforderungen für die bilanzierenden Unternehmen. Zum anderen entwickelt sich der Energiehandel getrieben durch die Energiewende extrem dynamisch, was zum Beispiel die Themen Bewertung von langfristigen Power Purchase Agreements bezogen auf erneuerbare Energien bzw. die Bilanzierung von Grünstromzertifikaten zeigen. Hinzu kommt das aktuelle Projekt des IASB zur Entwicklung eines neuen Standards bezogen auf sog. rate regulated activities. Ein Thema, welches in Deutschland vor allem für Netzbetreiber von Bedeutung ist. Daher lässt sich ohne Zweifel sagen, dass die Bilanzierung im Energie-Sektor gerade insgesamt eine ausgesprochene Dynamik entfaltet.
Als Power, Utilities & Renewables Team von Deloitte verfolgen wir die Entwicklungen mit großer Aufmerksamkeit - sowohl in der Theorie als auch der Praxis. Die Themen sind aus fachlicher Sicht als solche schon sehr spannend. Viel wichtiger und bemerkenswerter ist jedoch eine regelrechte Aufbruchsstimmung, die mein Team erfasst hat. Wir wollen durch sinnvolle und pragmatische Bilanzierungslösungen unseren Beitrag zur Erreichung der Dekarbonisierung leisten. Wir sind dabei natürlich als Prüfer von Unternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette im Energiesektor unterwegs. Gleichzeitig werden wir immer häufiger von Nicht-Prüfungsmandanten angesprochen, welche auf unsere Expertise zu diversen Bilanzierungsthemen zurückgreifen möchten. Für die jeweiligen Themenblöcke haben wir in unserer Praxis jeweils gesonderte Expertenteams.
Welche weiteren Schritte erwartet Sie in Bezug auf Nachhaltigkeitsberichterstattung?
Dr. Benedikt Brüggemann: Nachdem die Nachhaltigkeitsberichterstattung vor einigen Jahren teilweise noch als Modeerscheinung bzw. Randerscheinung belächelt worden ist, besteht heute Common Sense, dass das Ziel der Klimaneutralität ohne funktionierende Nachhaltigkeitsberichterstattung auf Ebene der Unternehmen nicht erreicht werden kann.
Als weltweit agierende Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sehen wir uns in der Pflicht, die sich entwickelnde Nachhaltigkeitsberichterstattung als „Watchdog“ zu begleiten.
Wir sind in der einzigartigen Position, zur Entwicklung, Etablierung und Umsetzung weltweit einheitlicher Maßstäbe und Kriterien beizutragen. Wir begreifen diese Möglichkeit als große Chance und gleichzeitig Verantwortung. Wir wollen unseren Beitrag zu einer transparenten und global vergleichbaren Berichterstattung leisten. Dazu haben wir in den vergangenen Jahren ein schlagkräftiges Team in Deutschland aufgebaut, dass sich dediziert mit dem Thema Nachhaltigkeitsberichterstattung auseinandersetzt.
Themen wie Grünstrom- und Emissionszertifikate zeigen dabei, dass sich die finanzielle und nicht-finanzielle Berichterstattung mehr und mehr verweben. Es ist klar, dass die angestrebte Klimaneutralität gewaltige finanzielle Mittel erfordern wird. Dies wird sich in steigendem Maße auch auf die finanziellen Kennzahlen der Unternehmen auswirken.