Kurzfristig wird Wasserstoff zuerst in jenen Sektoren zum Einsatz kommen, die unter einem hohen gesellschaftlichen Druck zur Dekarbonisierung stehen. Voraussichtlich wird es sich dabei um Branchen handeln, die näher am Verbraucher angesiedelt sind. Auf dem Markt ist ein steigendes Interesse von Seiten der europäischen Konsumgüter-Hersteller zu verzeichnen, die ihren Kunden einen Preisaufschlag für die Substitution des Energiebedarfs in der Erzeugung und im Vertrieb abverlangen können. Als Beispiel bietet sich ein Auto an, das aus „grünem Stahl“ hergestellt ist (Stahl produziert mithilfe von Wasserstoff). Ein weiteres wären wasserstoffbetriebene Lkws für den Transport von Konsumgütern.
Mittel- bis langfristig werden auch industrielle Rohstoffe und Elektrizitätsbedarfe durch Wasserstoff dekarbonisiert werden. Dazu kommen möglicherweise bestimmte Spezialanwendungen in den Bereichen Mobilität und Bauwirtschaft. Auf längere Sicht wird die wasserstoffbasierte Produktion von Ammoniak und synthetischen Kohlenwasserstoffbrennstoffen darüber hinaus auch die Dekarbonisierung der am schwierigsten zu transformierenden Sektoren ermöglichen, wie etwa Schifffahrt und Luftfahrt.
Grundsätzlich lassen sich drei Formen von Wasserstoff unterscheiden. Grauer Wasserstoff wird durch den Einsatz von Erdgas als Energiequelle der Elektrolyse erzeugt (Dampfreformierung). Dieses Verfahren hat den Nachteil eines hohen Treibhausgas-Ausstoßes und ist aktuell noch das fast ausschließlich vorherrschende. Blauer Wasserstoff wird ebenfalls mithilfe von Erdgas hergestellt, doch hier wird der negative Klimabeitrag durch moderne Technologien wie CCS (Carbon Capture and Storage) neutralisiert. Dieser Ansatz könnte einen wichtige Zwischenschritt auf dem Weg zum grünen Wasserstoff darstellen, der vollständig mit erneuerbaren Energiequellen hergestellt wird. Die prinzipiellen Schwankungen in der Energieversorgung machen beim grünen Wasserstoff Speichermöglichkeiten nötig. Für die Produktion kommen sowohl alkalische Elektrolyseure (stabile Elektrizitätsversorgung) als auch saure Elektrolyseure (Protonen-Austausch-Membran-Elektrolyseure, PEM; schwankende Elektrizitätsversorgung) in Frage.
Der breitere Einsatz von Wasserstoff ist nur machbar, wenn die Kosten für grünen Wasserstoff sinken. Mit einem erheblichen Kostenrückgang ist allerdings durchaus zu rechnen, da Elektrizität aus erneuerbaren Energiequellen in Zukunft in großem Umfang verfügbar sein wird und auch die Kosten für die Elektrolyse durch den Skaleneffekt sinken. Solange auf kurzfristige Sicht noch mit hohen Preisen zu rechnen ist, dürfte insbesondere blauer Wasserstoff zum nötigen Initialschub der Wasserstoffversorgung beitragen.
Sowohl Pipelines als auch Schiffe und Lkw werden beim Vertrieb von Wasserstoff eine wichtige Rolle spielen. Die Möglichkeit einer Vernetzung von großen Wasserstoffspeichern für Orte mit maritimem Zugang spricht für eine Pipeline-Infrastruktur. An anderen Orten im Landesinneren geht es dagegen eher um eine Verbindung von Angebot und Nachfrage. Die Wasserstofflieferung durch Lkw bleibt hierbei sehr relevant, da das Wasserstoff-Netzwerk nicht so weitreichend sein wird wie die gegenwärtigen Netzwerke für Erdgas. Der Import, sei es über Pipelines oder zukünftig verstärkt auch per Schiff, wird eine wesentliche Rolle spielen, denn die Nachfrage nach Wasserstoff wird die heimische Produktion in Europa voraussichtlich übertreffen.
Andererseits könnte sich in Europa produzierter Wasserstoff – insbesondere aus günstigen erneuerbaren Energiequellen – als durchaus konkurrenzfähig gegenüber importiertem Wasserstoff erweisen, wenn man die Transport- und potenziellen Umwandlungskosten berücksichtigt. Wenn die Nachfrage nach Wasserstoff erst einmal eine gewisse Größenordnung erreicht hat, wird sich eine zentralisierte Produktion mit Pipeline-Netzwerk-Anschluss zu großen Speicherkapazitäten gegenüber einer dezentralisierten Produktion als vorteilhaft herausstellen, da sie einen höheren Grad an Versorgungssicherheit gewährleistet.
Angesichts des Drucks zur Dekarbonisierung wird Europa im Rahmen von Stimulus-Maßnahmen für die Wirtschaft im Zuge der COVID-19-Pandemie auch die Wasserstoffindustrie voranbringen. Das eröffnet Chancen über die Grenzen der Weltregionen hinweg, etwa in der erzeugenden Industrie in Asien (z.B. Elektrolyse, Brennstoffzellen, Solarzellen, Pkw, Lkw). Außerdem wird der Export von erneuerbarer Energie aus Regionen wie Nordafrika und dem Mittleren Osten gestärkt, ebenso die Nutzung günstiger fossiler Ressourcen (blauer Wasserstoff) in Australien, Kanada und Russland.
Wasserstoff-Blending ist ein wirkungsvoller strategischer Hebel, der einerseits Wasserstofferzeugern eine sichere Nachfrage garantiert und andererseits aus Sicht der Wasserstoffnutzer Angebotsengpässe vermeidet. Da sich allerdings aktuell immer deutlicher eine stetige Wasserstoffnachfrage herauskristallisiert, wird Blending tendenziell eine niedrigere Priorität haben.
Um die Kosten für Elektrolyseure (und Brennstoffzellen) zu senken, ist kurzfristig eine Unterstützung durch die Regierungen nötig. Dennoch wird Wasserstoff auch langfristig teurer als fossile Brennstoffe bleiben, was politisch gesetzte Anreize für die Schaffung eines wettbewerbsfähigen Angebots erforderlich macht, z.B. durch eine CO2-Steuer oder Subventionen.
Um die Chancen auf diesem Gebiet wahrzunehmen, müssen Unternehmen strategische Risiken eingehen. Sie sollten sich um den Aufbau von Ecosystems bemühen, kontinuierlich weitere Einsichten erarbeiten und proaktiv mit politischen Entscheidungsträgern interagieren.
Auf der Nachfrageseite wird sich die Aufmerksamkeit zu einem großen Teil auf die großen Marken der Welt richten. Sie schauen sich nach erneuerbaren Alternativen für ihren nicht elektrifizierbaren Energiebedarf um, damit sie ihre Nachhaltigkeits-Ambitionen erfüllen können. Dies könnte zu einer wasserstoffbasierten Entsprechung zu den derzeit gängigen Power Purchase Agreements (PPA) führen, wie sie im Elektrizitätsmarkt entstanden sind.
Auf der Angebotsseite werden sich Konsortien aus global führenden Energiefirmen auf einen Ausbau des Wasserstoffmarktes konzentrieren. Durch ihre Größe – und damit der Fähigkeit, solche groß angelegten Projekte überhaupt zu stemmen – sind sie dazu ebenso prädestiniert wie durch ihr ureigenes Interesse, mit dem Wasserstoffgeschäft ihre Relevanz auch in einer dekarbonisierten Welt der Zukunft zu sichern. Sie werden daher den Druck auf die Regierungen erhöhen, einen entsprechend dimensionierten Wasserstoffmarkt zu ermöglichen.
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