Aufgrund der COVID-19-Pandemie hat die Klimadiskussion teilweise an Schärfe verloren, die Herausforderungen des Klimawandels bleiben jedoch weiterhin bestehen. Die globale Krisenbewältigung hat bereits verdeutlicht, welche Anstrengungen und Mittel bei einer Gefahrensituation mobilisiert werden können. Das Sicherstellen der natürlichen Lebensgrundlagen und damit das Ermöglichen klimaneutralen Wirtschaftens wird bald wieder ganz oben auf der Agenda stehen – möglicherweise sogar intensiver und breiter diskutiert als noch vor einigen Monaten. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob dann ein ebenso konsequentes Krisenmanagement stattfinden wird.
Wenn es um klimaneutrales Handeln von Industrie, Verkehr und privaten Haushalten geht, spielt die Energieversorgung eine zentrale Rolle. Die Energiewende, die in Deutschland seit dem Atomausstieg an Fahrt aufgenommen hat, betraf bisher größtenteils Energieversorger wie Kraftwerke und Netzbetreiber. Doch zur Erreichung der Klimaziele muss sie durch eine Verkehrs- und Wärmewende flankiert werden. Alle Schritte hin zur Dekarbonisierung haben dabei vor allem eines gemein: Elektrifizierung muss in vielen Sektoren massiv ausgebaut werden. Eine solch komplexe, ökonomische Transformation setzt voraus, dass Veränderungen sektorübergreifend, vernetzt und abgestimmt erfolgen.
Das Deloitte Whitepaper „Durch Sektorenkopplung zu einer dekarbonisierten und nachhaltigen Ökonomie“ untersucht die Auswirkungen auf das Energiewirtschaftliche System und die Implikationen für die Bereiche Verkehr, Industrie und Wärme. Im Fokus stehen dabei zwei zentrale Fragenstellungen:
Des Weiteren beschreibt das Whitepaper, wie Unternehmen die individuellen Herausforderungen der Sektorenkopplung managen und den Aufbau einer agilen Sektorenkopplungsorganisation gestalten können: Welche Prozesse sie implementieren sollten, um systematische und strukturierte Entwicklungspfade für das eigene Unternehmen zu erarbeiten, und welche Instrumente sie für abgesicherte Entscheidungen zur Sektorenkopplung aufbauen können.
Wir haben zudem Dr. Thomas Schiller, Leiter von Clients & Industries, und Dr. Andreas Langer, Partner im Bereich Energy, Resources & Industrials, zum Thema Sektorenkopplung im Kontext der Energiewende in Deutschland befragt.
Das Thema Sektorenkopplung muss im Kontext der Energiewende zu einer stärkeren Zusammenarbeit führen, und das insbesondere zwischen Energiewirtschaft, Industrie, Verkehrs- und Immobiliensektor. Gibt es hierzu bereits Ansätze für eine engere Zusammenarbeit?
Dr. Thomas Schiller: Ja, die gibt es. Betrachten wir einmal den Verkehrssektor: Um die Klimaziele einzuhalten, sollen nach Willen der Bundesregierung bis 2030 rund 10 Millionen Elektrofahrzeuge auf der Straße unterwegs sein. Das sind sehr viele Fahrzeuge, die dann mit Strom versorgt werden müssen. Die deutschen Automobilhersteller arbeiten auch an Geschäftsmodellen, um über Vehicle-to-Grid-Lösungen am eigentlichen Kerngeschäft der Stromversorger zu partizipieren. Bei diesen Lösungen handelt es sich um Konzepte, die den Rückfluss von Energie aus, für E- und Hybrid-Autos angebotenen, elektrischen Antriebsakkus an das öffentliche Stromnetz forcieren.
Ein weiteres Beispiel ist die Stahlindustrie, in der zur Dekarbonisierung und Direktreduktion von Eisenerz die Anwendung von grünem Wasserstoff diskutiert wird. Nicht zu vergessen ist auch der Wärmesektor, der über 50% des Gesamtenergieverbrauchs in Deutschland verursacht. Auch hier werden Dekarbonisierungsmöglichkeiten, z.B. über Wärmepumpen, bereits konsequent angegangen. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass es viele Ansätze zur Sektorenkopplung gibt, die die Energiewende unterstützen. Am Ende des Tages müssen sich jedoch alle Dekarbonisierungsüberlegungen auch an deren Wirtschaftlichkeit messen.
Welche technischen und ökonomischen Herausforderungen bestehen, wenn wirtschaftliche Aktivitäten stärker elektrifiziert werden und zur gleichen Zeit der Anteil der erneuerbaren Energien am Energiemix erheblich steigen soll?
Dr. Andreas Langer: Das sind tatsächlich erhebliche systemische Herausforderungen, denn in Zukunft wird eine eindeutige Trennung zwischen Energielieferant und -kunde immer schwieriger.
Um dies zunächst ökonomisch beantworten zu können, muss man das deutsche Regulierungsregime verstehen. Um Anreize für Investitionen in Erneuerbare Energien wie Wind und Solar zu schaffen, wurde die Vergütung von grünem Strom über EEG-Verträge vertraglich fixiert. Dieses Vorgehen soll unter anderem das bis 2030 gesetzte Ziel von 65% erneuerbarem Strom im Strommix ermöglichen.
Im Jahr 2018 wurden laut BNetzA allein für die Ausfallarbeit von ca. 5.400 GWh rund 635 Mio. € Entschädigungsansprüche der Anlagenbetreiber fällig.
In Zeiten von Stromüberschuss und geringen Börsenpreisen kann das jedoch dafür sorgen, dass die Strompreise aufgrund der Umlagen für die Endverbraucher steigen. Mit anderen Worten: Ist das Stromangebot im Verhältnis zur Nachfrage hoch – oder müssen EEG-Anlagen sogar aufgrund des Einspeisemanagements abgeriegelt werden – wird es teuer. Im Jahr 2018 wurden laut BNetzA allein für die Ausfallarbeit von ca. 5.400 GWh rund 635 Mio. € Entschädigungsansprüche der Anlagenbetreiber fällig. Mit zunehmend volatilem Stromanteil aus erneuerbaren Anlagen werden Situationen mit negativer Residuallast vermehrt auftreten.
Um das gesamte energiewirtschaftliche System technisch wie ökonomisch in Balance zu halten, müssen daher Flexibilitätspotenziale geschaffen und im Rahmen der Sektorenkopplung bedacht werden. Deshalb wird eine enge Kooperation der Wirtschaftsakteure im Rahmen der Energiewende zunehmend wichtiger.
Primäres Ziel der Sektorenkopplung für Industrie und Verkehr ist das Vorantreiben der Dekarbonisierung, um die vorgegebenen Klimaziele zu erreichen. Welche Chancen ergeben sich für Unternehmen zusätzlich, wenn sie eine aktive Rolle am Energiemarkt übernehmen wollen?
Dr. Thomas Schiller: Beispielsweise denken Automobilhersteller über Geschäftsmodelle nach, wie sie sich beim Management von Energien einbringen können. Man geht davon aus, dass die bis 2025 auf dem Markt befindlichen Elektroautos eine Gesamtmenge von ca. 350 Gigawattstunden und bis 2030 eine Terawattstunde speichern können. Mit der zur Verfügung stehenden Regelenergie könnten zusätzliche Einnahmequellen generiert werden.
Die Herausforderung für Unternehmen ist jedoch in allen Fällen, dass sie sich mit neuen Geschäftsmodellen im Energiebereich teilweise auf inhaltliches Neuland begeben, das technisch und auch regulatorisch sehr vielschichtig ist.
Auch die Industrie bietet Beispiele, wie zur Stabilisierung der Stromversorgung beigetragen werden kann. Die Herausforderung für Unternehmen ist jedoch in allen Fällen, dass sie sich mit neuen Geschäftsmodellen im Energiebereich teilweise auf inhaltliches Neuland begeben, das technisch und auch regulatorisch sehr vielschichtig ist.
Häufige Fragen sind dabei etwa, ob sich Investitionen, z.B. in neue Assets, lohnen, zu welchem Zeitpunkt welche Risiken zu beachten sind und wie sich der gesamte Markt entwickeln wird. Denn die Entwicklungsdynamiken von Technologien, Regulierungen, CO2- und Energie-Preisen machen Entscheidungen auch vor dem Hintergrund der Energiewende sehr komplex. Chancen und Risiken liegen hier eng zusammen.
Wie wirken sich die skizzierten Entwicklungen auf den Stromverbrauch aus und wie umfangreich muss die Zusammenarbeit, beispielsweise zwischen Energiewirtschaft, Industrieunternehmen und Verkehrssektor sein?
Dr. Andreas Langer: Der Gesamtstromverbrauch in Deutschland lag 2019 bei ca. 511 TWh. Unterschiedliche Verbände und energiewirtschaftliche Forschungsinstitute prognostizieren einen Verbrauch von ca. 740 TWh für das Jahr 2030 – also einen erheblichen Anstieg. Und Energiesparmaßnahmen sind da bereits eingerechnet.
Die deutschen Übertragungsnetzbetreiber rechnen bei einer starken Sektorenkopplung für 2030 mit einer Residuallast von ca. 80 GW in der Spitze. Dazu kommen vermehrt Stunden mit negativer Residuallast – also ein Überschuss an Stromeinspeisung. Hierfür können zunächst neben Speichertechnologien auch relativ effiziente Power-to-Heat- und Vehicle-to-Grid-Technologien flexibel eingesetzt werden. Mit zunehmenden Anteilen erneuerbaren Stroms durch die Energiewende und höheren Stromüberschüssen werden auch Technologien mit geringerem Wirkungsgrad wirtschaftlich interessanter – beispielsweise die Erzeugung grünen Wasserstoffs mittels Elektrolyseure.
Eingriffe in industrielle Produktionsprozesse über zu- und abschaltbare Lasten werden jedoch i.d.R. ökonomisch nicht darstellbar sein. Ähnlich verhält sich dies auch beim „Rückverstromen“ von grünem Wasserstoff oder Methan, das nur mit erheblichen Energieverlusten teuer erkauft werden kann. Das heißt für viele Wirtschaftsbereiche, dass geeignete Wege zu einer effizienten Sektorenkopplung zunächst ausgelotet werden müssen. Technische Machbarkeit muss mit Wirtschaftlichkeit einhergehen – und hierfür muss das Gesamtbild im Blick behalten werden. In den nächsten Jahren wird dies die Herausforderung für viele Unternehmen.