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Der KI-Zug ist schnell unterwegs - wir müssen jetzt losrennen, um ihn zu erwischen

Prof. Marco Zaffalon, wissenschaftlicher Direktor am IDSIA USI-SUPSI, spricht über Trends in der künstlichen Intelligenz (KI) und die Schweiz als F&D-Hub für KI.

Marco, Sie sind Professor und wissenschaftlicher Direktor am IDSIA, dem Institut für Künstliche Intelligenz in Lugano. Was ist Ihr Forschungsschwerpunkt an diesem Institut?

 

Das IDSIA hat ein sehr breites Spektrum an Forschungsinteressen, das den größten Teil der Künstlichen Intelligenz, wie sie heute verstanden wird, abdeckt: maschinelles Lernen, einschließlich Deep Learning/Neuronale Netze, Steuerung und Signalverarbeitung, Verarbeitung natürlicher Sprache, Robotik, Computer Vision, Suche und Optimierung sowie grundlegendere Fragen zu Ungewissheit, Wahrscheinlichkeit, Statistik und Kausalschluss.

Gauss-Prozessen.

Das IDSIA ist weltweit für seine Forschung im Bereich der Künstlichen Intelligenz bekannt. Welche verschiedenen technologischen Anwendungen und Innovationen hat das IDSIA der Welt gebracht?

 

Das IDSIA ist sehr bekannt für seine Forschung zu Optimierungsalgorithmen - zum Beispiel in den Bereichen Routing, Lieferketten und Zeitplanung - die vom Verhalten der Ameisen inspiriert sind: die so genannte Ameisenkolonieoptimierung. Diese Forschung inspirierte schliesslich auch die Schwarmrobotik, bei der sehr einfache Roboter durch indirekte Kommunikation untereinander ein komplexes Schwarmverhalten erzeugen, so wie es die Ameisen tun. Technisch gesehen wird dieser Prozess als Stigmergy bezeichnet.

Darüber hinaus können wir auf eine sehr lange Geschichte von Anwendungsprojekten mit Unternehmen zurückblicken, bei denen zahlreiche besondere Innovationen entwickelt wurden.

Ein ziemlich angesagtes Thema ist derzeit das LSTM (Long Short Memory), eine Art neuronales Netzwerk, das 1997 in Zusammenarbeit zwischen IDSIA und der Technischen Universität München entwickelt wurde. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um das weltweit am häufigsten verwendete neuronale Netzwerk. Alle grossen Unternehmen wie Apple, Google, Amazon usw. verwenden es.

Was sind die wichtigsten aktuellen Trends im Bereich Künstliche Intelligenz und wo sehen Sie Wachstumspotenzial für KI-Anwendungen?

 

Die Verarbeitung natürlicher Sprache hat in letzter Zeit aufgrund der unglaublichen Fortschritte, die durch den Einsatz von Deep Learning erzielt wurden, stark zugenommen. Ich spreche zum Beispiel von OpenAIs GPT3. Wir erhalten zahlreiche Anfragen für Arbeiten in diesem Bereich, vor allem von Unternehmen aus dem Banken- und Versicherungssektor und allgemein dort, wo es viele Texte und Vorschriften gibt. Auch in der Industrie 4.0 und im Internet der Dinge, das in der verarbeitenden Industrie schnell wächst, wird KI zunehmend eingesetzt.

Ganz allgemein denke ich, dass alle Industriesektoren und Unternehmen derzeit aufgrund der KI dramatisch wachsen sollten. Wenn das nicht der Fall ist, gibt es ein Problem und wir sollten besser verstehen, wo dieses Problem liegt, um mögliche Hindernisse zu beseitigen. Mit anderen Worten, ich will damit sagen, dass die KI bereits bereit ist, Unternehmen zu helfen und sie wachsen zu lassen. Es ist unsere Schuld, wenn wir die Chance noch nicht ergriffen haben.

Know-how- und Technologietransfer ist ein wichtiger Teil Ihrer Arbeit. Das klingt sehr attraktiv für Unternehmen. Wie arbeiten Sie mit Schweizer und internationalen Unternehmen zusammen?

 

Ja, Know-how begeistert die Unternehmen. In der Regel arbeiten wir mit ihnen über Innosuisse zusammen, die Schweizer Innovationsagentur, die die gemeinsame Arbeit von Forschungszentren und Privatunternehmen finanziert. Dies ist eine grosse Chance für Unternehmen, insbesondere für solche, die es sich nicht leisten können, in Innovation durch angewandte Forschung zu investieren. Diese Projekte dauern in der Regel eineinhalb Jahre und können den Unternehmen bei der Innovation helfen.

Aber es gibt auch viele Unternehmen, die es vorziehen, uns einen direkten Auftrag zu erteilen, zum Beispiel um die Arbeit zu beschleunigen. Auf die eine oder andere Weise haben wir in der Regel immer etwa 20 angewandte Projekte in Arbeit. UBS, Mastercard , Novartis, Roche, Georg Fischer und Bystronic gehören zu den Unternehmen, mit denen wir zusammengearbeitet haben oder zusammenarbeiten.

Der Erfolg der Schweiz als Wirtschaftsstandort hat viel mit starken F&E-Kapazitäten und -Aktivitäten zu tun - an Universitäten, Forschungsinstituten und in Unternehmen. Wie beurteilen Sie die derzeitige Position der Schweiz als Wissenszentrum für Forschung und Entwicklung&im Vergleich zu anderen Ländern?

 

Ich kann Ihnen viele objektive Gründe nennen, warum die Schweiz sehr gut aufgestellt ist:

  • Vor allem die jährlichen Investitionen der Regierung in Forschung und Entwicklung (&) in Prozent des BIP sind weltweit führend;
  • die Qualität seiner Fachhochschulen und die unzähligen hochkarätigen Forschungszentren, die über das ganze Land verteilt sind;
  • die grossen Unternehmen des Privatsektors wie Roche, Novartis, UBS und ABB investieren massiv in die Forschung, so dass die Schweiz auch bei der Zahl der Patentanmeldungen pro Einwohner an der Spitze der Weltrangliste steht;
  • Das dichte Netz kleiner und mittlerer Unternehmen in der Schweiz, die in ihren Bereichen zu den Besten ihrer Klasse gehören;
  • Das zweigleisige Bildungssystem der Schweiz, das eine mehr akademisch, das andere mehr angewandt, wird weltweit regelmässig als Beispiel für ein gutes Bildungssystem gelobt.

Für mich verdankt die Schweiz ihren Erfolg aber vor allem ihrer liberalen und pragmatischen Mentalität. Die Bürokratie wird auf ein Minimum reduziert, der Staat vertraut seinen Bürgern, Innovation ist willkommen und wird gefördert, egal woher sie kommt. Ich zum Beispiel kam als frischgebackener Doktorand aus Italien hierher, kannte niemanden und war in der weltweiten Forschung noch nicht gut aufgestellt. Und doch hat man mir die Freiheit gegeben, meine Forschung zu betreiben, und mir eine Menge Forschungsmittel zur Verfügung gestellt. Ich konnte eine grosse Gruppe von Forschern aufbauen und wurde schliesslich wissenschaftlicher Direktor des IDSIA und Professor.

Was könnte Ihrer Meinung nach getan werden, um die Attraktivität der Schweiz als KI-Forschungszentrum zu erhöhen?

 

Leider spielt Geld definitiv eine Rolle. Chefwissenschaftler in KI-Unternehmen können in den USA mehrere Millionen Dollar pro Jahr verdienen. Postgraduierte Studenten, auch ohne Doktortitel, können leicht mit einem Gehalt von 150.000 Dollar anfangen. Das Durchschnittsgehalt für Forscher liegt bei 350.000 Dollar. Sind diese Forscher so viel wert? Darüber lässt sich streiten, aber wenn wir Top-KI-Wissenschaftler in Schweizer Unternehmen haben wollen, sollten wir auch die finanziellen Aspekte berücksichtigen und uns nicht nur auf die anderen Vorteile eines Aufenthalts in der Schweiz verlassen.

Wir brauchen auch aggressivere, risikofreudigere Investoren. In der Tat sind grosseInvestitionen der Schlüssel zu diesem Prozess, nicht nur öffentliche, sondern auch private Investitionen. Schauen Sie sich die ganz grossenUnternehmen im Bereich der KI an: Sie befinden sich alle entweder in den USA (z.B. Amazon, Google und Facebook) oder in China (z.B. Baidu, Tencent und Alibaba). In der Schweiz oder in Europa gibt es keine. Meiner Meinung nach sollten wir uns fragen, warum.

Meine eigene Antwort auf diese Frage ist, dass es an einer strategischen Politik (und an einer Vision) fehlt, die Unternehmen und Zentren dazu ermutigt, zusammenzuarbeiten, um ein starkes Geschäftswachstum in diesem Bereich zu fördern. Dazu gehört auch die Entwicklung einer gewissen Infrastruktur, wie z.B. eine gut konsolidierte und aggressive Investorenkette; Unterstützung und Organisation seitens der kantonalen und der föderalen Regierung; gemeinsame Tische, an denen die Regierung, die Wissenschaft und die grossen Akteure der Branche und auch des öffentlichen Sektors, wie die Bundesbahn, die Luftfahrt usw., kontinuierlich Möglichkeiten für gemeinsames Wachstum/Investitionen/Innovationen diskutieren können. Und warum sollte man nicht ein Ministerium für KI einrichten? In den Emiraten gibt es bereits seit 2017 ein solches Ministerium.

Kann die Schweiz ein Zentrum für Forschung&Entwicklung im Bereich der KI sein?

 

Das ist eine grosseChance. Aber der KI-Zug bewegt sich schnell und ist leicht zu verpassen, trotz unserer bisherigen Erfolge. Wir müssen jetzt losrennen, um ihn zu erwischen. Die Antwort liegt nicht nur darin, neue KI-Professoren an einer Fachhochschule einzustellen. Es geht um viel mehr als das. Das System des Landes muss sich insgesamt dem Wandel stellen. Sie fragen sich vielleicht, warum ich das alles über KI sage und nicht über einen anderen Bereich der Innovation. Die Antwort ist, dass KI im Gegensatz zu anderen Innovationsbereichen jeden anderen Bereich durchdringen wird. Die weltweiten Einnahmen aus dem KI-Geschäft im laufenden Jahrzehnt werden auf etwa 13 Billionen Dollar geschätzt. Wir sprechen hier über unseren zukünftigen Wohlstand und unser Wohlergehen.

Über Marco Zaffalon

 

Marco Zaffalon ist Professor und wissenschaftlicher Direktor am Dalle Molle Institute for Artificial Intelligence (IDSIA USI-SUPSI) in Lugano, Schweiz. Er leitet eine Forschungsgruppe von 30 Vollzeitforschern, die sich mit probabilistischem maschinellem Lernen beschäftigen. Prof. Zaffalon hat 150 Forschungsarbeiten veröffentlicht und ist Mitbegründer von Artificialy, einem innovativen Unternehmen für KI-Lösungen mit Sitz in Lugano.

Über IDSIA

 

Das Dalle Molle Institut für Künstliche Intelligenz (IDSIA) mit Sitz in Lugano, Kanton Tessin, wurde 1988 gegründet. Es hat in den 1990er Jahren internationale Anerkennung für die Erfindung und Entwicklung des Langzeitgedächtnisses (LSTM) erlangt, eines Algorithmus, der heute von Google, Facebook und Apple für die Spracherkennung verwendet wird. Aus dem IDSIA stammen auch die wichtigsten Wissenschaftler und Technologien von DeepMind, einem KI-Unternehmen, das nur vier Jahre nach seiner Gründung von Google für 500 Millionen US-Dollar übernommen wurde.

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