Die Rolle des Verwaltungsrats in Bezug auf die organisationale Resilienz
Déborah Carlson-Burkart ist Mitglied in Verwaltungs- und Aufsichtsgremien verschiedener Unternehmen im In- und Ausland (börsennotierter Konzern, Staatsunternehmen, Start-Up/Unicorn und Private-Equity-finanzierte Gesellschaft), alle in dynamischen Transformationsphasen. Über 15 Jahre leitete sie die Rechtsabteilungen multinationaler Unternehmen in den Bereichen Finanzen, Technologie und Maschinenbau und war Mitglied der Geschäftsleitung. Seit 2015 ist sie als unabhängige Rechtsberaterin tätig und als Of-Counsel bei Eversheds Sutherland in der Schweiz mit Fokus auf Unternehmensrecht, Corporate Governance, Risikomanagement und Compliance. Zusätzlich engagiert sie sich als Gastdozentin für Corporate Governance und Compliance im EMBA-Programm der Universität St. Gallen (HSG) sowie als Faculty Chair für Risk & Compliance an der Swiss Board School. Ihr akademischer Hintergrund umfasst das Jurastudium und die Anwaltsprüfung in Zürich, einen LL.M. an der Duke University sowie Weiterbildungen an MIT, INSEAD und Harvard.
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swissVR Monitor: Die Resilienz eines Unternehmens umfasst diverse Ebenen: Finanzen, Betrieb/Operations, Personal, Ökologie und Reputation. Welche Rolle und Aufgaben hat der Verwaltungsrat, wenn es darum geht, die organisationale Resilienz auf allen Ebenen sicherzustellen?
Déborah Carlson-Burkart: Ich habe in meiner frühen Karriere, bevor ich Verwaltungsrätin wurde, nur in Unternehmen gearbeitet und später als externe Rechtsanwältin begleitet, die sich in tiefgreifenden Transformationen befanden – ausgelöst durch externe Untersuchungen (FBI, SEC, Bundesanwaltschaft, etc.), finanzielle Engpässe, hohe personelle Fluktuation oder operative Schwächen und deren Folgen.
Meine Lehre daraus: Resilienz ist kein untergeordnetes Thema, sondern ein zentrales strategisches Führungsprinzip. Der Verwaltungsrat muss Resilienz als ganzheitliches Konzept verstehen, das Finanzen, Operations, Personal, Ökologie und Reputation gleichermassen umfasst. Es genügt nicht, nur auf einzelne Säulen zu setzen. Vielmehr ist es unsere Aufgabe als Verwaltungsrat, Resilienz kontinuierlich zu trainieren – wie einen Muskel beim Sport – und keine Angst davor zu haben, diesen Muskel zu fordern, also eine Kultur zu fördern, die Wandel als Chance begreift, Risiken offen adressiert und das Unternehmen auch in Krisenzeiten handlungsfähig hält. Dabei hilft mir persönlich, dass ich selbst viele schwierige Herausforderungen meistern musste - diese eigene Widerstandskraft ermöglicht es mir, in turbulenten Phasen Ruhe und Orientierung zu geben.
Ich gebe Ihnen dazu ein konkretes Beispiel: Bei der europäischen N26 Online-Bank habe ich erlebt, wie regulatorische Eingriffe das gesamte Geschäftsmodell auf die Probe stellen können. Dabei wurde das Unternehmen nach rasantem Wachstum von der BaFin mit einem Kundenwachstumslimit belegt – weil die Compliance-Prozesse nicht mehr ausreichend skalierbar waren und dem Wachstum hinterherhinkten. Für ein dynamisches Fintech wie N26 war das ein Einschnitt: Expansionspläne wurden gestoppt, Millionen in IT/Compliance investiert, neue Produkte deswegen nicht lanciert. Die Stimmung war angespannt, der Druck auf das Management enorm – und auch persönlich war das eine Zeit, in der Resilienz gefragt war wie nie zuvor. Beharrlich mussten die beschlossenen Verbesserungen – auch gegen interne Widerstände und Nachlässigkeiten – umgesetzt werden. Nur durch diese Hartnäckigkeit und die enge Zusammenarbeit mit den Behörden konnte das Wachstumslimit aufgehoben werden. Damit war der Weg für N26 wieder frei. Diese Erfahrung bestätigt für mich: Resilienz findet sich nicht nur bei der Gestaltung der Prozesse, sondern ist eine Haltung – geprägt von Lernbereitschaft, organisatorischer Anpassungsfähigkeit und individuellem Durchhaltevermögen.
swissVR Monitor: Die organisationale Resilienz kann sowohl im gesamten Verwaltungsrat als auch in Ausschüssen diskutiert werden. Für welche Ausschüsse ist dieses Thema Ihrer Meinung nach besonders relevant?
Déborah Carlson-Burkart: Aus meiner Erfahrung in Unternehmen mit tiefgreifenden Restrukturierungen und Umbrüchen weiss ich, Resilienz muss in den richtigen Gremien mit der entsprechenden Kompetenz verankert sein. Im Audit and Risk Committee (ARC) ist Resilienz bei der kritischen und oft unpopulären Beurteilung von finanziellen und operationellen Risiken gefragt. Im Nomination and Compensation Committee (NCC) braucht es Resilienz, um – insbesondere in Transformationsphasen – nicht unter dem Eindruck des Moments, sondern nachhaltig Personal- und Entschädigungsentscheidungen zu fällen. Ergänzend gewinnen heute auch Spezialausschüsse an Bedeutung, vor allem im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI).
Unabhängig vom Ausschuss braucht es Persönlichkeiten mit Weitblick, persönlicher Standfestigkeit und Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – im besten Interesse der Unternehmung und nicht von Angst oder Hoffnung getrieben.
Bei Visana überwachen wir im ARC nicht nur die finanzielle Stabilität und das Risikomanagement, sondern achten auch darauf, dass unsere Prozesse robust und flexibel bleiben. Im NCC liegt der Fokus auch auf der Entwicklung einer nachhaltigen Resilienz-Kultur bei den Mitarbeitenden, zum Beispiel durch deren Aus- und Weiterbildung. Zusätzlich haben wir ein KI-Committee etabliert, welches KI-Herausforderungen und KI-Projekte aktiv adressiert und prüft, um nicht nur regulatorischen Anforderungen gerecht zu werden, sondern auch die Zukunftsfähigkeit von Visana zu sichern.
Die forcierte enge Verzahnung der Ausschüsse, dieses Netz aus verschiedenen Individuen, die Verantwortung übernehmen, ermöglicht es, Lösungen im Interesse des Unternehmens zu finden und die Zukunft des Unternehmens zu planen und umzusetzen.
swissVR Monitor: Unsere Befragung unter Verwaltungsratsmitgliedern zeigt, dass nur wenige Unternehmen konkrete Aktivitäten oder Projekte auf allen Resilienzebenen umsetzen (Finanzen, Betrieb/Operations, Personal, Ökologie und Reputation). Welche Risiken bestehen Ihrer Meinung nach für Firmen, die lediglich auf einzelnen Resilienzebenen aktiv sind?
Déborah Carlson-Burkart: Unternehmen, die Resilienz nur auf einzelnen Ebenen angehen, übersehen oft die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bereichen – mit teils gravierenden Folgen. Ich habe erlebt, wie der Versuch, eine Krise allein durch Kostensenkungen und Budgetkürzungen zu bewältigen, das Problem sogar verschärft hat: Die Mitarbeitenden fühlten sich verunsichert und nicht wertgeschätzt, was die Fluktuation weiter antrieb und das Betriebsklima belastete. Gleichzeitig fehlten durch die Sparmassnahmen wichtige Ressourcen im Tagesgeschäft, wodurch sich Fehler häuften und die Effizienz litt. Die operativen Schwächen blieben bestehen oder verschärften sich sogar, weil strukturelle Verbesserungen ausblieben. Diese Negativspirale führte dazu, dass die finanziellen Probleme nicht gelöst, sondern durch die Folgewirkungen der einseitigen Massnahmen noch grösser wurden. Hinzu kam, dass die Unruhe im Unternehmen auch nach aussen drang und das Vertrauen von Kunden und Partnern beeinträchtigte. Erst als wir im Verwaltungsrat gemeinsam mit dem Management auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzten – Finanzen stabilisierten, Prozesse digitalisierten, Lieferketten stärkten und die Mitarbeitenden weiterbildeten – konnten wir die Abwärtsspirale stoppen und das Unternehmen wieder auf Kurs bringen. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig ein ganzheitlicher Resilienzansatz ist, um gefährliche Blindstellen und Dominoeffekte zu vermeiden.
swissVR Monitor: Gemäss unserer Untersuchung sehen die Verwaltungsratsmitglieder die Resilienz ihrer Unternehmen in den nächsten zwölf Monaten aufgrund der turbulenten Weltlage vor allem bei der finanziellen Stabilität, der Kundenakquisition und der Personalstrategie herausgefordert. Gibt es in Ihren Augen weitere grundlegende Herausforderungen hinsichtlich Resilienz?
Déborah Carlson-Burkart: Aus meiner Sicht wird der fundamentale und rasante Einfluss der KI auf Prozesse, Geschäftsmodelle und Denkweisen immer noch massiv unterschätzt. KI zwingt Unternehmen dazu, sich kontinuierlich und mit hoher Geschwindigkeit anzupassen – und das bedeutet auch, dass ständig neue Kompetenzen aufgebaut werden müssen. Doch als ob das nicht schon herausfordernd genug wäre, kommen geopolitische Unsicherheiten und sich ständig ändernde sowie international widersprüchliche regulatorische Vorgaben hinzu. Diese Faktoren setzen Unternehmen enorm unter Druck, da sie strategische Flexibilität und eine schnelle Reaktionsfähigkeit verlangen – Eigenschaften, die heute mehr denn je über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
Mindestens genauso wichtig, aber oft übersehen, ist die Bedeutung einer resilienten Unternehmenskultur. Nur wenn die Mitarbeitenden offen für Veränderungen sind und bereit, sich auf neue Situationen einzulassen, kann ein Unternehmen langfristig widerstandsfähig bleiben. In meiner Rolle als Verwaltungsrat sehe ich es als eine meiner zentralen Aufgaben, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Organisation und Menschen gemeinsam stark durch unsichere Zeiten gehen. Das ist alles andere als einfach – es ist Knochenarbeit, verbunden mit Unsicherheit und manchmal auch mit Ängsten.
Diese tiefgreifenden Herausforderungen betreffen uns alle, und jeder muss seinen eigenen Weg finden, damit umzugehen. Für mich persönlich heisst das, mich kontinuierlich weiterzubilden – beispielsweise an der MIT Sloan School of Management im Bereich KI – und mindestens einmal im Jahr meine Komfortzone bewusst zu verlassen. Ob beim Besteigen des Matterhorns oder beim Segeln einer Regatta. Solche Erfahrungen helfen mir, offen für das Unbekannte zu bleiben, Ängste zu überwinden und neue Perspektiven zu gewinnen. Ich bin überzeugt: Die Zukunft gehört denen, die den Wandel nicht nur ertragen, sondern aktiv gestalten – mit Neugier, Mut und der Bereitschaft, sich immer wieder neu zu erfinden.
swissVR Monitor: Wie sollten Verwaltungsräte ihre Unternehmen auf diese (zusätzlichen) Herausforderungen vorbereiten?
Déborah Carlson-Burkart: Verwaltungsräte sollten Resilienz als fortlaufenden Führungsprozess verstehen und aktiv gestalten. Sie müssen sicherstellen, dass Resilienz in der Unternehmensstrategie und -kultur verankert ist, indem sie Schwachstellen proaktiv identifizieren, Szenarien durchspielen und die Organisation auf verschiedene Eventualitäten vorbereiten. Fehler sollten offen angesprochen und als Lernchance genutzt werden, damit die Organisation anpassungsfähig bleibt.
Ein konkretes Beispiel aus meiner Erfahrung: In einer Phase starker Marktveränderungen haben wir im Verwaltungsrat gemeinsam mit dem Management regelmässig Krisenszenarien simuliert und die Auswirkungen auf Finanzen, Personal und Lieferketten durchgespielt. Dabei wurden Schwachstellen sichtbar, die wir vorher nicht erkannt hatten – etwa eine zu starke Abhängigkeit von einzelnen Zulieferern. Durch diese Erkenntnisse konnten wir gezielt Gegenmassnahmen ergreifen, die Lieferkette diversifizieren und die Organisation robuster aufstellen. Gerade in dieser Situation war es entscheidend, dass verschiedene Perspektiven und Kompetenzen im Verwaltungsrat vertreten waren, denn nur so konnten wir Risiken frühzeitig erkennen und kreative Lösungen entwickeln. Die Zusammenarbeit mit dem Management war dabei nicht nur kontrollierend, sondern vor allem unterstützend und impulsgebend. Wir haben gemeinsam Prozesse hinterfragt, neue Technologien evaluiert und die Belegschaft in die Veränderungen eingebunden. Verwaltungsräte sollten sich kontinuierlich weiterbilden, neue Entwicklungen im Blick behalten und selbst Vorbild für Resilienz und Lernbereitschaft sein. Persönliche Widerstandskraft und die Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen, sind dafür unerlässlich.
Kurz gesagt: Resilienz verlangt ständige Aufmerksamkeit und Weiterentwicklung. Der Verwaltungsrat muss die richtigen Fragen stellen, Impulse geben und konsequent an der Widerstandsfähigkeit der Organisation arbeiten – und das am besten mit konkreten, praxisnahen Massnahmen, die sich im Alltag bewähren.