In der Praxis ergaben sich immer wieder Unsicherheiten hinsichtlich der Frage, wann eine Tatsache als neu hervorgekommen gilt und daher eine Wiederaufnahme rechtfertigt. Entscheidend dafür, ob Tatsachen oder Beweismittel neu hervorgekommen sind, ist der Kenntnisstand der Abgabenbehörde im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides, welcher wiederaufgenommen werden soll. Fraglich ist jedoch, wessen Wissensstand sich die Abgabenbehörde zurechnen lassen muss, da die zuständigen Finanzbeamten oftmals nicht über das gesamte Aktenmaterial der Behörde verfügen. Im nachfolgenden Beitrag wollen wir unter Bezugnahme jüngerer höchstgerichtlicher Judikatur (VwGH 13.10.2021, Ra 2021/13/0127) darüber aufklären, wann und wie in der Praxis gewährleistet werden kann, dass die Abgabenbehörde von den abgabenrechtlich relevanten Informationen rechtzeitig Kenntnis erlangt, sodass in späteren Jahren eine (amtswegige) Wiederaufnahme nicht mehr verfügt werden kann und mehr Rechtssicherheit besteht.
Im gegenständlichen Fall vermietete der Abgabepflichtige seine Eigentumswohnung zuerst „gewöhnlich“ über mehrere Jahre, bevor er diese später über eine Onlineplattform tageweise an Touristen vermittelte. Zur Finanzierung der Wohnung nahm der Revisionswerber einen Fremdwährungskredit auf, aus dessen Konvertierung er im Jahr 2012 einen Verlust erlitt. Um diesen Verlust aufwandswirksam geltend zu machen, erklärte der Abgabepflichtige im Jahr 2012 die Vermietungseinkünfte als Einkünfte aus Gewerbebetrieb und machte die Verluste aus dem Fremdwährungskredit als Werbungsausgaben geltend.
Als Folge einer Außenprüfung wurde das Einkommensteuerverfahren für das Jahr 2012 wiederaufgenommen, zumal nach Ansicht des Finanzamtes die Umstände, dass die geltend gemachten Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus der unveränderten Vermietung der Wohnung in Wien resultieren (folglich bloß Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, kurz „V&V“ vorliegen). Aufgrund der Einkünftequalifizierung aus V&V seien die Fremdwährungsverluste nicht anzuerkennen. Im Zeitpunkt der Bescheiderlassung am 30.1.2014 sei nicht bekannt gewesen, dass die Fremdwährungsverluste als Aufwand berücksichtigt waren, zumal diese Information nicht aus der Steuererklärung, welche am 29.1.2014 elektronisch übermittelt wurde, hervorging. Vielmehr seien diese Umstände erst einige Tage nach Bescheiderlassung am 3.2.2014 an das Veranlagungsteam übermittelt worden, zumal die Begleitdokumente (insb die Einnahmen-Ausgabenrechnung), welche zwar am 30.1.2014 übermittelt wurden, erst am 3.2.2014 eingelangt sind und darüber hinaus erst im Rahmen der Außenprüfung hinreichend festgestellt wurden. Im Zeitpunkt der Bescheiderlassung lagen daher nicht alle relevanten Informationen vor.
Im gegenständlichen Verfahren hatte der VwGH daher die Frage zu klären, ob der Abgabenbehörde im Zeitpunkt der Bescheiderlassung alle rechtserheblichen Sachverhaltsinformationen bekannt waren oder ob sie erst später davon Kenntnis erlangt hat. Entscheidend für den Ausgang des Verfahrens war, ob der VwGH beim Neuhervorkommen von Tatsachen auf den Wissensstand der gesamten Abgabenbehörde, somit auf das Einlangen der Informationen beim Finanzamt am 30.1.2014 oder auf den Wissensstand des konkreten Behördenorgans im Veranlagungsteam, welches nicht über alle Informationen der Behörde verfügt, abstellt.
Eingangs ist festzuhalten, dass nach der stRsp des VwGH das Neuhervorkommen von Tatsachen und Beweismittel aus der Sicht des jeweiligen Verfahrens zu beurteilen ist, sodass es darauf ankommt, ob der Abgabenbehörde im wiederaufzunehmenden Verfahren der Sachverhalt vollständig bekannt war. Das Neuhervorkommen bezieht sich dabei auf den Wissensstand (aufgrund der Abgabenerklärungen und ihrer Beilagen) des jeweiligen Veranlagungsjahres.
Zur Frage, ob der Wissensstand der gesamten Behörde (des Finanzamtes als Gesamtorganisation) oder des konkreten Behördenorgans relevant sei, sprach der VwGH – erneut – aus, dass für das Neuhervorkommen von Tatsachen und Beweismittel entscheidend ist, ob der abgabenfestsetzenden Stelle alle rechtserheblichen Sachverhaltselemente bekannt waren. Sind daher die relevanten Informationen bloß in der Einlaufstelle des Finanzamtes eingelangt oder hat nur ein einzelner Prüfer Kenntnis vom konkret relevanten Sachverhalt, wurde aber die konkrete Veranlagungsabteilung (die abgabenfestsetzende Stelle) davon nicht informiert, dann muss sich die Abgabenbehörde dieses Wissen nicht zurechnen lassen und kann in weiterer Folge eine (amtswegige) Wiederaufnahme verfügen. Im gegenständlichen Fall sprach der VwGH daher aus, dass die Wiederaufnahme rechtmäßig verfügt wurde, zumal der abgabenfestsetzenden Stelle die rechtserheblichen Sachverhaltselemente im Zeitpunkt der Bescheiderlassung nicht bekannt waren.
Der gegenständliche Fall zeigt, dass der Grat zwischen dem Bekanntsein und Neuhervorkommen von Tatsachen ein sehr schmaler ist, zumal der VwGH einen sehr engen Maßstab ansetzt, wenn es darum geht, zu welchem Zeitpunkt die Abgabenbehörde von den rechtserheblichen Sachverhaltsinformationen Kenntnis erlangt. Nach der Ansicht des VwGH ist für die Frage, ob Tatsachen neu hervorgekommen sind, der Wissensstand der konkreten abgabenfestsetzenden Stelle maßgeblich. Der bloße Umstand, dass die Informationen beim Finanzamt (bspw in der Einlaufstelle) eingelangt sind, führt noch nicht dazu, dass die relevanten Umstände der abgabenfestsetzenden Stelle bekannt geworden sind. Vielmehr ist es erforderlich, dass das konkrete Veranlagungsteam Kenntnis von den relevanten Sachverhaltsinformationen erlangt.
Um daher sicherzustellen, dass eine Tatsache bekannt wird, sodass später keine (amtswegige) Wiederaufnahme mehr möglich ist, müssen Beilagen zu Abgabenerklärungen, die dem Vorbringen von Beweismitteln und abgabenrechtlich relevanten Informationen dienen, im Verfügungsbereich der konkreten Veranlagungsabteilung einlangen, und nicht nur im Finanzamt als Gesamtorganisation. Dies wird idR am besten durch die Verwendung von FinanzOnline als Übermittlungsform sichergestellt werden können, zumal bei einer erfolgreichen Übermittlung davon auszugehen ist, dass das Anbringen unmittelbar bei der zuständigen Abteilung der Abgabenbehörde eingelangt ist. Bei schriftlichen Eingaben gilt es jedoch zu beachten, dass die darin enthaltenen Informationen wohl erst als bekannt gelten, wenn diese in der Einlaufstelle des Finanzamtes eingescannt und im richtigen elektronischen Verwaltungsakt zugeordnet sind.