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SwissVR Monitor: Unternehmen ringen mit der Nachhaltigkeit

Zürich/Luzern, 26. Februar 2024

Schweizer Unternehmen segeln zwar auf einem klaren Nachhaltigkeitskurs, der Gegenwind scheint aber grösser als erwartet: Zwar erkennen mehr als vier von fünf Verwaltungsratsmitgliedern die wachsende Bedeutung von Nachhaltigkeitst¬hemen und attestieren ihrem Gremium genügend Kenntnisse im Nachhaltigkeitsbereich. Der neue swissVR Monitor offenbart aber auch, dass nur die Hälfte der Unternehmen Nachhaltigkeitsziele festgelegt hat und deren Erreichung misst. Zudem anerkennen mehr als die Hälfte der über 400 befragten VR-Mitglieder Schwierigkeiten bei der Messung der eigenen Umwelt¬auswirkungen. Die Studie offenbart eine Diskrepanz zwischen der steigenden Bedeutung von Nachhaltigkeit für Verwaltungsräte und Unternehmen und der praktischen Umsetzung von Nachhaltigkeitsmassnahmen. Angesichts der Anfang Jahr in Kraft getretenen neuen Berichterstattungs- und Offenlegungspflichten (siehe Kasten am Ende) in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG) verschärft sich diese Diskrepanz weiter – der Handlungsbedarf wird offensichtlich.

Nachhaltigkeit hat für Verwaltungsräte nicht nur Fahrt aufgenommen, sondern entwickelt sich zu einem zentralen Pfeiler der Unternehmensstrategie. Dies hat die halbjährlich von der Verwaltungsratsvereinigung swissVR in Kooperation mit dem Prüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte Schweiz und der Hochschule Luzern durchgeführte Befragung gezeigt. 82 Prozent der insgesamt 409 Ende letzten Jahres befragten VR-Mitglieder berichten von einer wachsenden Bedeutung der Nachhaltigkeit in den vergangenen drei Jahren, wobei 25 Prozent sogar von einer starken Bedeutungszunahme sprechen. Die Aussichten für die kommenden drei Jahre sind ebenso klar: 84 Prozent erwarten, dass die Bedeutung einer nachhaltigen Entwicklung für ihr Unternehmen weiterhin steigt.

In den Branchen Handel und Konsumgüter sowie Bau und Immobilien ist die Nachhaltigkeitswelle besonders stark zu spüren. Im Handel und in der Konsumgüterindustrie berichten 97 Prozent der Verwaltungsratsmitglieder von einer Zunahme der Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen in den vergangenen drei Jahren, und 95 Prozent rechnen damit, dass die Bedeutung der Nachhaltigkeit weiterhin steigen wird. Im Baugewerbe und in der Immobilienbranche liegen die Werte bei je 89 Prozent. Diese Zahlen verdeutlichen, wie stark der Konsum und das Bauwesen von einem wachsenden Bewusstsein für Nachhaltigkeit sowie der Nachfrage nach umweltfreundlichen Lösungen getrieben sind.

 

Bedeutung klar erkannt

 

Nachhaltigkeit wird in den Führungsetagen der Schweizer Betriebe auch intensiv diskutiert: Bei fast allen Grossunternehmen (97%) und drei Vierteln der Kleinbetriebe (75%) stand das Thema in den letzten zwölf Monaten auf der Agenda der Verwaltungsräte. Die überwiegende Mehrheit (85%) aller befragten Verwaltungsratsmitglieder bestätigt, dass ihr Gremium in den letzten 12 Monaten Nachhaltigkeitsthemen diskutiert hat, wobei das Gros der Diskussionen im gesamten Gremium und nicht in Fachausschüssen stattfand.
Die VR-Mitglieder sind sich ihrer Verantwortung bewusst und fühlen sich gut gerüstet, um Nachhaltigkeitsthemen zu adressieren. 82 Prozent der Befragten sehen sich mit dem nötigen Fachwissen ausgestattet, und 78 Prozent nehmen eine aktive Rolle bei der Festlegung der Nachhaltigkeitsstrategie ein. Auch die Definition wichtiger Nachhaltigkeitsthemen für ihr Unternehmen hat über zwei Drittel (70%) der Befragten bereits auf Kurs gebracht (siehe Grafik 1).

«Die Umfrageergebnisse sprechen eine klare Sprache: Nachhaltigkeit ist in den strategischen Unternehmensgremien angekommen und die Verwaltungsratsmitglieder sind gerüstet, um die Weichen für eine nachhaltige Entwicklung zu stellen. Umfang und Komplexität der ESG-Regulierungen sind eine grosse Herausforderung für die Unternehmen; deren interne Umsetzung muss auch den Verwaltungsrat interessieren – nicht zuletzt, weil weitere Regulierungsschritte bereits angekündigt sind», sagt Mirjam Gruber-Durrer, Dozentin der Hochschule Luzern am Institut für Finanzdienstleistungen Zug IFZ.

 

Schwierigkeiten bei der Messung

 

Die Befragung zeigt auch auf, dass eine klare Mehrheit (60%) erhebliche Hürden bei der Messung der ökologischen Auswirkungen ihres Unternehmens diagnostiziert. Zeitlich limitierte Ressourcen (51%) und die Kostspieligkeit von Nachhaltigkeitsmassnahmen (38%) werden als weitere Hürden bei den Nachhaltigkeitsbestrebungen genannt (siehe Grafik 2).

Der Druck kommt von aussen

 

Die Befragung zeigt ebenfalls auf, dass Nachhaltigkeitsthemen, welche die Unternehmen aktuell am meisten betreffen, von aussen und nicht aus den Unternehmen selbst kommen: 59 Prozent der Unternehmen geben Regulierungen und 56 Prozent die sich wandelnden Bedürfnisse der Kundschaft an. Eher überraschend ist die vergleichsweise geringe Bedeutung der Shareholder: Nur 18 Prozent der befragten Verwaltungsratsmitglieder nennen Investorinnen und Investoren als wichtige Treiber für ihre Nachhaltigkeit. Bei den grossen Unternehmen sind es aber bereits ein gutes Drittel (34%).

Trotz der allgemein hohen Relevanz des Themas und der Bedeutung, welche sie den Bedürfnissen ihrer Kundschaft beimessen, entwickeln weniger als die Hälfte der Unternehmen (49%) eigene nachhaltigere Produkte oder Dienstleistungen. Dies überrascht, denn es gibt kaum eine Branche, in der die Entwicklung nachhaltiger Lösungen für die Kundschaft nicht möglich oder sinnvoll wäre oder die von den neuen ESG-Berichterstattungs- und Offenlegungspflichten nicht betroffen wäre.

 

Blinder Fleck bei den Lieferketten?

 

So ist nicht die Produktentwicklung die in den befragten Unternehmen am häufigsten umgesetzte Massnahme, sondern die Effizienzsteigerung bei der Energienutzung (69%). Dies dürfte nicht zuletzt eine direkte Reaktion auf die befürchtete Strommangellage vom vergangenen Winter sein und ergibt auch aus Kostengründen Sinn.

Weniger als ein Drittel (30%) der Befragten geben zudem an, dass sie in ihrem Unternehmen Massnahmen zur Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien bei Lieferfirmen und Geschäftspartnern umgesetzt haben. Analog dazu sagen nur 26 Prozent der VR-Mitglieder, dass ihr Unternehmen von Nachhaltigkeitsrisiken entlang der Lieferkette betroffen sei. Vor dem Hintergrund der für viele Unternehmen geltenden Sorgfaltspflichten in der Lieferkette (siehe Kasten) erscheinen diese Resultate sehr tief; es stellt sich deshalb die Frage, ob das Bewusstsein für Risiken in der Lieferkette genügend geschärft ist. Besonders exponierte Unternehmen sind allerdings umsichtiger: Risiken entlang der Lieferketten sind für mehr als jedes zweite Unternehmen aus dem verarbeitenden Gewerbe und der chemischen Industrie (55%) sowie aus Handel und Konsum (53%) ein wichtiges Nachhaltigkeitsthema.

 

Fehlende Nachhaltigkeitsziele

 

Eine weitere Herausforderung bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsmassnahmen in Schweizer Unternehmen zeigt sich darin, dass lediglich etwas mehr als die Hälfte der VR-Gremien (52%) Nachhaltigkeitsziele für ihr Unternehmen festgelegt hat und deren Zielerreichung misst. Erst weniger als ein Viertel (23%) hat gemäss eigenen Angaben diese Aufgaben vollständig erledigt und alle nötigen Massnahmen zur Messung des Zielerreichungsgrades umgesetzt – bei den grossen Unternehmen sind es 37 Prozent.

Zudem scheinen viele VR-Gremien mangelhaft informiert: Nur die Hälfte (50%) erhält regelmässig ein Nachhaltigkeitsreporting zu ihren Betrieben; bei den Grossunternehmen sind es allerdings 79 Prozent (siehe Grafik 3).

«Die Ergebnisse des swissVR Monitors zeigen deutlich: Die Verwaltungsratsgremien sind gefordert, das Steuer zu übernehmen und für eine bessere Umsetzung der definierten Nachhaltigkeitsstrategie zu sorgen. Ein effektiver Lösungsansatz könnte die Verlagerung spezifischer Nachhaltigkeitsthemen in spezialisierte Ausschüsse sein, um eine tiefere Auseinandersetzung mit der Thematik, eine Priorisierung der zu ergreifenden Massnahmen, eine Fokussierung auf die unternehmensrelevanten Themen sowie ein verbessertes Reporting zu ermöglichen. Dies würde nicht nur die Transparenz erhöhen, sondern auch die Verantwortlichkeit und die Effektivität der Nachhaltigkeitsbemühungen in den Unternehmen stärken», findet Cornelia Ritz Bossicard, Präsidentin von swissVR.

 

Augenmass bei der Regulierung nötig

 

«Der swissVR Monitor zeigt eine klare Diskrepanz zwischen den wachsenden rechtlichen und gesellschaftlichen Ansprüchen und der praktischen Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien in Schweizer Unternehmen auf. Die Politik sollte nun nicht durch weitere Offenlegungspflichten zusätzlichen Druck aufbauen, sondern durch gezielte Anreize die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien fördern», sagt Reto Savoia, CEO von Deloitte Schweiz.

«Datenerhebung und Reporting spielen zwar eine wichtige Rolle, um Fortschritte messbar und transparent zu machen. Den wichtigsten Beitrag zu einer nachhaltigeren Entwicklung leisten jedoch sinnvolle Investitionen sowie innovative Produkte und Dienstleistungen. Diese gestärkte Innovationskraft kommt nicht nur den Unternehmen zugute, sondern auch dem Wirtschaftsstandort Schweiz, und unterstützt den Erhalt unserer natürlichen Lebens- und Produktionsgrundlagen», so Reto Savoia.

Hintergrund zu den erweiterten ESG-Offenlegungs- und Berichterstattungspflichten

Die Schweiz hat mit dem Gegenvorschlag zur 2020 abgelehnten Konzernverantwortungsinitiative den Weg zu einer transparenteren Offenlegung von ESG-Daten eingeschlagen. Die «Verordnung über die Berichterstattung über Klimabelange» gilt für Unternehmen seit dem 1. Januar 2024; die gesetzlichen Anforderungen nach Art. 964a-c OR greifen aber in den meisten Fällen bereits für das Berichtsjahr 2023.

Von der Berichterstattungspflicht sind Schweizer Publikumsgesellschaften betroffen, die bestimmte Kriterien erfüllen. Sie müssen zwei von drei der folgenden Kriterien in zwei aufeinander folgenden Jahren erfüllen: 500 Mitarbeitende, CHF 20 Millionen Bilanzsumme, CHF 40 Millionen Umsatz. Die Verordnung verlangt eine detaillierte Berichterstattung zu Klimathemen gemäss den Anforderungen der TCFD (Task Force on Climate-related Financial Disclosures).

Die zentrale Veränderung für Schweizer Firmen ist eine umfangreiche Berichterstattung in den Bereichen Governance, Strategie, Risikomanagement und KPI. Die Unternehmen müssen die entsprechenden Anforderungen identifizieren, Massnahmen und Ziele definieren und diese in den Unternehmensprozessen abbilden sowie Informationen aufbereiten, die zeigen, inwiefern das Unternehmen von Klimarisiken betroffen ist und welche Chancen sich aus einem Übergang in eine fossilarme Wirtschaft ergeben.
In den kommenden Jahren ist zudem mit einer signifikanten Ausweitung der Offenlegungspflichten – auch zu Themen wie Natur und Biodiversität, Wasser und Zirkulärwirtschaft – zu rechnen, die Schweizer Unternehmen mit Tochtergesellschaften in der EU massgeblich betreffen wird.