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Der internationale Handel wurde in den letzten zwei Jahrzehnten massgeblich durch den Aufstieg Chinas zur Fabrikationsstätte der Welt geprägt. Der Eintritt Chinas in die WTO von 2001 und die fortschreitende Digitalisierung haben die bereits bestehende internationale Arbeitsteilung zusätzlich verstärkt: Gemäss WTO stieg der Anteil Chinas an den weltweiten Exporten von 2001 bis 2019 von 4% auf 13% – und China steht bei vielen Gütern im Mittelpunkt der globalen Wertschöpfungsketten.
Der Freihandel ist jedoch schon länger angeschlagen. Seit der Finanzkrise von 2008 wächst der internationale Handel nur noch langsam und es kamen vermehrt globalisierungskritische Regierungen an die Macht. Der viel diskutierte Handelskrieg zwischen den USA und China und die stockende Weiterentwicklung des Multilateralismus sind die im globalen Handel spürbarsten Auswirkungen dieser Machtübernahme der Globalisierungsskeptiker. Und dann kam Anfang 2020 die Pandemie: Die weltweite Verbreitung von Covid-19 führte zu einem massiven Wirtschaftseinbruch, bedingt durch unterschiedlichste staatliche Massnahmen wie Einschränkungen der Reise- und Versammlungsfreiheit, Hygienemassnahmen oder dem Lockdown von ganzen Ländern.
Diese Erfahrung führte allen die Risiken einer konzentrierten und auf Kosteneffizienz getrimmten Lieferkette vor Augen: Die globale Arbeitsteilung hat eine enorme geografische Konzentration angenommen, insbesondere in China. Laut dem Schweizer Lift- und Rolltreppenhersteller Schindler kommen beispielsweise 70% der weltweiten Komponenten ihrer Industrie aus einem Umkreis von nur 100 Kilometern rund um Shanghai. Viele der Lieferanten aus Asien (unabhängig davon, ob es Drittparteien oder Konzerngesellschaften sind) mussten im Frühjahr ihren Betrieb temporär einstellen oder zumindest stark einschränken. Die Abhängigkeit von diesen Firmen führte auch in der Schweiz zu Verzögerungen und beeinflusste grosse Teile der industriellen Produktion. Es dauerte nicht lange bis der Ruf nach vermehrter heimischer Produktion oder zumindest nach Nearshoring aufkam – das Vertrauen in die internationalen Lieferketten war erschüttert. Viele befürchteten, dass in der Krise jeder nur für sich schaut, insbesondere bei systemrelevanten Gütern.
Im Zusammenhang mit der Krise war und ist das Thema Lieferkette für viele Unternehmen neben dem Workforcemanagement tatsächlich eines der wichtigsten Themen. Die Risiken und die Strategie müssen jetzt neu beurteilt werden. Abbildung 1 zeigt, dass bei den Unternehmen insbesondere die Analyse der kritischen Stellen der Lieferkette im Vordergrund steht. Die Umfrage unter Schweizer Verwaltungsräten hat gezeigt, dass dies für eine klare Mehrheit des verarbeitenden Gewerbes ein wichtiger bzw. eher wichtiger Aspekt ist. Allerdings plant nur knapp ein Drittel der Unternehmen dieses Sektors, ihre Lieferkette anzupassen und stärker lokale Beschaffung zu betreiben, und nur 16% werden ihre Auslandsabhängigkeiten reduzieren.
Dass nicht mehr Unternehmen planen, ihre Lieferketten anzupassen und stärker zu lokalisieren, hat verschiedene Gründe. Erstens existieren Produkte, für die es nur sehr wenige Anbieter gibt, sodass die Optionen zur Beschaffung begrenzt sind und die Unternehmen damit keine Möglichkeit haben, ihre Auslandsabhängigkeit zu reduzieren. Dies ist beispielsweise bei gewissen Rohstoffen der Fall, aber auch bei verarbeiteten Zwischenprodukten wie Komponenten für Elektrogeräte. Zweitens ist die Motivation, im Ausland zu produzieren, in manchen Fällen nicht nur die Kostenreduktion, sondern auch die Nähe zu potentiellen Absatzmärkten – Stichwort «local-for-local». Asien bietet mit der steigenden Kaufkraft seiner Mittelschicht für viele Produkte aussichtsreiche Wachstumsmöglichkeiten. Drittens muss eine Anpassung der Lieferkette gut durchdacht und geplant sein, denn es sind auch Risiken und erhebliche Investitionen damit verbunden. Nearshoring führt häufig zu höheren Kosten. Dies kann man zwar als eine Art Versicherungsprämie ansehen, allerdings lässt sie sich nur bedingt auf die Kunden überwälzen und hat somit Einfluss auf die Margen. Darüber hinaus müssen zahlreiche interne Prozesse angepasst werden, was einen weiteren Kostentreiber darstellt.
Alle diese Gründe sollten Unternehmen aber nicht abschrecken, ihre Lieferkette zu analysieren, denn einerseits kann Nearshoring die Flexibilität erhöhen und andererseits ist die Anfälligkeit der Lieferketten gegenüber Ausfällen in den letzten Jahren gestiegen. Dafür verantwortlich ist unter anderem die geografische Konzentration möglicher Lieferanten, sei es von Vorprodukten oder von «After-Sales»-Dienstleistungen, die beispielsweise bei Umweltkatastrophen das Problem bei Ausfällen zusätzlich verstärkt. Das Risiko solcher extremen Wetterereignisse nimmt tendenziell zu. Zudem hatte bislang die Kostenoptimierung eine sehr hohe Priorität. Der Lagerbestand wurde tief gehalten und der Fokus lag in der gesamten Wertschöpfungskette auf Just-in-Time-Produktion. Ein solches System ist naturgemäss anfälliger auf externe Einflüsse und führt auch zu höheren finanziellen Risiken. Laut einer Studie der Universität St. Gallen werden sich hochgradig koordinierte Just-in-Time-Liefernetzwerke aber nicht unbedingt zurückbilden. Die Lagerbestände werden laut dem Modell ansteigen, die dadurch entstehenden Kosten werden aber vergleichsweise niedriger sein, da die Verwaltung der zusätzlichen Bestände bei sorgfältigem Informationsaustausch und enger Koordination billiger ist. Das Ziel sollten also nicht nur kurzfristige Kosteneinsparungen sein, sondern eine möglichst robuste Lieferantenkette aufzubauen. Das hat vor allem mit Transparenz, Zusammenarbeit und Flexibilität zu tun und bedeutet nicht zwingend eine Verlagerung ins Inland oder nähere Ausland.
In manchen Fällen ist aber tatsächlich ein Reshoring in die Schweiz sinnvoll. Dank stark automatisierter Prozesse konnte beispielsweise die Firma Wander die Produktion des Brotaufstrichs Crunchy Cream zurück in die Schweiz verlagern. Bis ins Jahr 2016 wurde das Ovomaltine-Produkt noch in Belgien hergestellt. Für die Bedienung der neuen Anlage reichen drei Personen pro Schicht, sodass sich die Produktion in einem Hochlohnland wie der Schweiz lohnt. Ausserdem konnte die verstärkte Digitalisierung in der Produktion weiteres Offshoring verhindern. Beispielsweise ABB und Siemens haben in Lenzburg und Zug hochmoderne Fabriken gebaut und damit ein klares Bekenntnis zum Standort Schweiz gegeben.
Der erste Schritt für eine erfolgreiche Lieferkettenstrategie liegt bei der Übersicht über den Status quo. Dieser unterscheidet sich meist von der Lehrbuchversion, denn in der Realität wächst eine Lieferkette organisch, ist innerhalb des Unternehmens je nach Markt und Produkt anders und wird spätestens bei den Lieferanten der Lieferanten höchst komplex. Covid-19 hat gezeigt, wie wichtig Transparenz im Krisenfall sein kann, um möglichst schnell und vorausschauend handeln zu können. Ein digitales Lieferantennetzwerk, das die lineare Sicht auf die einzelnen Bereiche der Wertschöpfungskette aufbricht und miteinander verbindet, verbessert den Überblick gegenüber einer klassischen Lieferkette und beschleunigt den Informationsaustausch. Somit ist eine bessere Zusammenarbeit möglich, um flexibel auf allfällige Risiken zu reagieren.
Bevor in einem nächsten Schritt mittels Simulationen Belastungstests durchgeführt werden, müssen die Unternehmen wesentliche Risiken definieren. Dabei ist eine ganzheitliche Sicht von zentraler Bedeutung. Neben den internen Risiken aus betrieblichen Prozessen (wie beispielsweise Gerätestörungen) und externen Risiken der vor- und nachgelagerten Lieferketten (wie etwa Qualitätsproblemen, der finanziellen Stabilität oder den Risiken der Logistik) sollte der Analysefokus auch vermehrt auf Risiken in der Makroebene liegen. Diese Makrorisiken, zum Beispiel der geopolitische Wandel, der Klimawandel oder der demographische Wandel, sind vielleicht weniger sichtbar, können aber langfristig oft grosse negative Auswirkungen auf die gesamte Industriekette haben. Sind alle diese Risiken in Betracht gezogen, kann ein Unternehmen auf Basis der Belastbarkeitstests einen Aktionsplan als zentrales Element der Lieferkettenstrategie erstellen. Erfahrungsgemäss werden die besten Resultate erzielt, wenn der Prozess top-down gesteuert und geplant und dabei das gesamte Unternehmen miteinbezogen wird.
Die Krise kann Unternehmen als Weckruf dienen und das Bewusstsein für Makrorisiken aller Art stärken. Da mit solchen Drittpartei-Zwischenfällen auch in Zukunft zu rechnen ist, sollten Unternehmen demzufolge ihr Konsequenzmanagement verbessern und ihre Risikobeurteilung entsprechend anpassen. Zudem ist davon auszugehen, dass sich die M&A-Aktivität erhöhen wird, denn eine vertikale Integration innerhalb der Wertschöpfungskette kann das Risiko für Lieferengpässe ebenfalls verringern. Auch wenn es wohl nicht zu einem grossen Reshoring kommen wird, werden sich Firmen weiteres Offshoring gut überlegen müssen. Durch die Automatisierung sinkt darüber hinaus die Abhängigkeit der Produktion von Ländern mit tieferen Löhnen, wodurch sich wiederum neue Möglichkeiten ergeben – ganz abgesehen davon, dass die Löhne in Near- und Offshoring Ländern steigen und so der Lohnunterschied stetig kleiner wird. Die Pandemie wird globale Lieferketten somit zwar beeinflussen und gewisse Änderungen verursachen, den weitaus grösseren Einfluss auf die Wirtschaft wird sie jedoch durch andere Kanäle haben: durch die steigende Staatsverschuldung, durch die Fehlallokationen von Kapital im Zusammenhang mit der Liquiditätsschöpfung der Nationalbanken und die damit verbundenen Zombifizierung des Unternehmenssektors, und als Katalysator für die Digitalisierung. Letzteres bietet für gut positionierte Unternehmen Chancen, die unbedingt genutzt werden sollten.