Versäumt eine Partei aufgrund eines Irrtums eine Frist und erleidet sie dadurch einen Rechtsnachteil, kann sie einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellen. Hierfür darf jedoch die mögliche Aufklärung des Irrtums nicht durch auffallende Sorglosigkeit unterblieben sein. Ein solcher Antrag auf Wiedereinsetzung muss binnen drei Monaten ab dem Zeitpunkt, in welchem die Partei oder deren Vertreter:in bei pflichtgemäßer Aufmerksamkeit den Irrtum erkennen konnte, eingebracht werden. In einer jüngst ergangenen Entscheidung befasste sich der VwGH (20.10.2022, Ra 2022/13/0035) mit der Frage, ob der Irrtum über das (Nicht-)Einlangen einer Beschwerde bei der Behörde zu einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berechtigt. Dabei hat der VwGH ausgesprochen, dass das Unterbleiben einer Erkundigung beim Finanzamt, ob ein versendeter Schriftsatz tatsächlich auch beim Finanzamt eingelangt ist, kein auffallend sorgloses Verhalten darstellt.
Im gegenständlichen Fall wurden der Partei zwei Bescheide zugestellt. Sowohl gegen „Bescheid A“ als auch gegen „Bescheid B“ wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Aus der Ladung zur mündlichen Verhandlung im Verfahren über „Bescheid A“ stellte sich heraus, dass die Beschwerde gegen „Bescheid B“ nie bei der Behörde eingelangt ist. Es ist anzunehmen, dass das Schriftstück am Postweg verloren gegangen und die Beschwerdefrist gegen „Bescheid B“ damit ungenützt abgelaufen ist. Binnen drei Monaten nachdem die Partei aus der Ladung zur mündlichen Verhandlung von dem Verlust des Schriftstücks erfahren hat, wurde ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingebracht.
Strittig war nun, wann die dreimonatige Frist für die Einbringung eines Antrags auf Wiedereinsetzung zu laufen begonnen hat. Sowohl die belangte Behörde als auch infolge das BFG waren der Ansicht, dass nicht erst aus der Ladung zur mündlichen Verhandlung, sondern bereits aus früheren Amtshandlungen im Verfahren gegen „Bescheid A“ erkennbar war, dass „Bescheid B“ in Rechtskraft erwachsen sei. Daraus hätte die Partei bzw ihr Vertreter erkennen müssen, dass die Beschwerde gegen den „Bescheid B“ gar nicht eingelangt ist, sodass der Irrtum jedenfalls zu einem früheren Zeitpunkt als im Zeitpunkt der Zustellung der Ladung erkennbar gewesen sei. Die dreimonatige Wiedereinsetzungsfrist war damit nach Ansicht des BFG jedenfalls verstrichen.
In seiner Entscheidung führte der VwGH aus, dass der Verlust eines Schriftstücks am Postweg ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis darstellt, das grundsätzlich zur Wiedereinsetzung berechtigt. Unterliegt die Partei einem Irrtum über das Einlangen eines Schriftstücks bei der Behörde, kommt es für den Beginn der dreimonatigen Wiedereinsetzungsfrist auf den Zeitpunkt an, in welchem der Irrtum frühestmöglich zumutbar erkennbar gewesen ist; und nicht wann dieser tatsächlich erkannt wurde. Diese Frist wird aber nur dann in Gang gesetzt, wenn die mögliche Aufklärung nicht nur wegen eines minderen Grades des Versehens unterblieben ist, wobei kein strengerer Maßstab als bei der Versäumung der Frist selbst angelegt werden darf.
Basierend auf diesen Erwägungen gelangte der VwGH zum Ergebnis, dass in der Unterlassung der Überprüfung des Einlangens der Beschwerde kein über den minderen Grad des Versehens liegendes Verhalten erblickt werden kann. Ob im konkreten Fall der Irrtum zu einem früheren Zeitpunkt (vor Bekanntwerden durch die Ladung zur mündlichen Verhandlung) zumutbar erkennbar war, wurde im bisherigen Verfahren nicht hinreichend festgestellt, sodass nach Ansicht des VwGH der Antrag auf Wiedereinsetzung fristgerecht eingebracht wurde.
Wird eine Frist oder Prozesshandlung durch einen Irrtum versäumt, kommt es für den Lauf der Wiedereinsetzungsfrist darauf an, zu welchem Zeitpunkt die Partei oder deren Vertreter:in den Irrtum zumutbar erkennen konnte. In der Unterlassung der Überprüfung des Einlangens eines Schriftstückes erblickt der VwGH jedenfalls kein auffallend sorgloses Verhalten, welches einer Wiedereinsetzung entgegensteht. Zu welchem Zeitpunkt ein Irrtum zumutbar erkennbar ist, kann nicht pauschal festgelegt, sondern vielmehr nur einzelfallbezogen beurteilt werden. Jedenfalls empfiehlt es sich, Schriftstücke persönlich einzubringen oder sich über deren Einlangen zu erkundigen, um Streitigkeiten zu vermeiden.