Seit 2022 belasten Inflation und steigende Preise viele Menschen in der Schweiz und führen zu einem veränderten Konsumverhalten, das sich wahrscheinlich fortsetzen wird. Dies geht aus einer von Deloitte in Auftrag gegebenen Verbraucherumfrage hervor. In Bezug auf politisch bedingte Preise wie Mieten oder Krankenversicherungsprämien ist die Zustimmung der Befragten ziemlich gleichmässig zwischen schnellen Lösungen und strukturellen Lösungen aufgeteilt. Dennoch bestehen weiterhin erhebliche Risiken, dass die zugrundeliegenden Kostenprobleme nicht gelöst werden und dass populistische Massnahmen die Schweiz weniger attraktiv und wettbewerbsfähig machen.
Obwohl die Schweiz weit vom Meer entfernt ist, wird sie manchmal als "Insel der Glückseligkeit" bezeichnet. Und das zu Recht.1 Zum Beispiel ist die Schweiz in Bezug auf die Kaufkraft doppelt glücklich. Die Menschen in unserem Land können sich im Durchschnitt viel mehr leisten als die in den Nachbarländern, denn sie haben pro Jahr und Einwohner fast 50.000Euro2 zur Verfügung, während es in Österreich oder Deutschland nur etwas mehr als die Hälfte ist. Hinzu kommt, dass die Kaufkraft hier in der Schweiz in den letzten Jahren weitaus weniger von der erodierenden Wirkung der Inflation betroffen war. Die allgemeinen Preise in Deutschland sind zwischen Dezember 2020 und Ende 2023 um rund 17 Prozent gestiegen, in der Schweiz dagegen nur um 6 Prozent. Im gleichen Zeitraum stiegen die Lebensmittelpreise in einigen Ländern wie Deutschland (31 Prozent), dem Vereinigten Königreich (40 Prozent) und Estland (43 Prozent) noch stärker, in der Schweiz waren es wiederum 6 Prozent.3 Ab Februar 2023 (3,4 Prozent) sank die monatliche Inflationsrate im Jahresvergleich im gesamten letzten Jahr auf 1,4 Prozent im November und 1,7 Prozent im Dezember. Wie der leichte monatliche Anstieg der Zahlen für Dezember zeigt, ist die Inflation jedoch nach wie vor vorhanden.
Die Tatsache, dass andere Menschen noch tiefer in die Tasche greifen müssen, ist ein schwacher Trost, wenn man selbst plötzlich mehr bezahlen muss. Eine von Deloitte in Auftrag gegebene Umfrage unter 1.900 Schweizer Verbrauchern zeigt, dass die Inflation viele Menschen betroffen hat und zu Verhaltensänderungen geführt hat, die wahrscheinlich zumindest teilweise anhalten werden.
Siebenundzwanzig Prozent der Befragten gaben an, dass die Inflation für sie in den letzten 12 Monaten eine grosse Belastung darstellte, während weitere 38 Prozent sie als mittlere Belastung betrachteten. Die Zahlen sind in der französischsprachigen Schweiz etwas höher, wo die Inflation für 33 Prozent bzw. 40 Prozent eine hohe und mittlere Belastung darstellte.
Wie in Abbildung 1 dargestellt, führte dies zu Verhaltensänderungen in zwei Bereichen. Erstens wurden die nicht lebensnotwendigen Ausgaben reduziert. Zum Beispiel gaben 52 Prozent an, dass sie weniger auswärts essen und ausgehen würden. Über 40 Prozent gaben an, dass sie ihre Freizeitaktivitäten oder den Kauf von Möbeln, Haushaltsgegenständen bzw. Kleidung einschränken würden. Einundvierzig Prozent haben auch ihre Urlaubsreisen gekürzt. Zweitens haben die Menschen versucht, bei grösseren Ausgaben zu sparen, insbesondere bei Lebensmitteln (34 Prozent). Nach Angaben des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik sind Lebensmittel eine regelmässige und wesentliche Ausgabe, die etwa 8 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsbudgets ausmacht. Diejenigen, denen es gelingt, hier zu sparen, machen regelmässige Einsparungen.
Diese Verhaltensänderungen werden in Abbildung 2 bestätigt, die sich auch auf Fragen zu geplanten Änderungen bezieht, um diese beizubehalten. Ganz oben auf der Liste steht mit 57 Prozent die Reduzierung der Ausgaben für nicht lebensnotwendige Dinge, gefolgt von der Nutzung von Sonderangeboten oder dem Wechsel zu billigeren Produkten.
Sollte sich der Rückgang der Inflation weiter verbreiten, würde der Preisdruck weniger stark zunehmen und damit die Dringlichkeit von Sparmassnahmen verringern. Allerdings werden frühere Preissteigerungen nicht immer rückgängig gemacht; ein gewisser Kaufkraftverlust bleibt bestehen, bis er durch Reallohnsteigerungen ausgeglichen wird. Daher werden zumindest einige Verbraucher ihre Massnahmen wahrscheinlich beibehalten. Andere haben sich vielleicht angewöhnt: Warum mehr bezahlen, wenn man auch mit weniger auskommen kann, egal wie stark der Preisdruck steigt?
Die Beliebtheit von Rabatten, Sonderangeboten und billigeren Alternativprodukten zeigt, wie lohnend sie nicht nur aus Sicht der Verbraucher, sondern auch für Unternehmen sein können, wenn sie zum jeweiligen Branding und zur allgemeinen Preisstrategie passen. Letztere werden in einer Vielzahl von Formen umgesetzt, darunter Promotionen wie der Schwarze Freitag, grosszügigere Rabatte für Mitglieder des Kundenbindungsprogramms des Unternehmens oder die Einführung solcher Programme.
Zu den grössten und bekanntesten Preistreibern gehören politisch gesteuerte Preise, administrierte Preise wie Subventionen (vor allem in der Landwirtschaft), regulatorischer (Patent-)Schutz für pharmazeutische Produkte und Zölle. Auch Mieten und Krankenversicherungsprämien sind sehr wichtig. Der politische Druck, hier etwas zu unternehmen, wächst. Beide Bereiche sind jedoch sehr komplex und es gibt keine einfachen Lösungen. Erschwerend kommt hinzu, dass sowohl bei den Krankenversicherungsprämien als auch bei den Wohnungsmieten die Gefahr von Schnellschüssen und schlecht durchdachten Massnahmen besteht, die die Situation noch verschlimmern würden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Mietpreiskontrolle, die in verschiedenen Formen in Städten, darunter auch Berlin, angewandt wurde oder wird. Es ist eine scheinbar einfache Lösung: Mieterhöhungen werden streng begrenzt. Doch die Folgen sind meist negativ. Mietpreisbeschränkungen oder Kappungsgrenzen führen zu einer Verknappung des Angebots und insgesamt zu einer verstärkten Wohnungsknappheit imAllgemeinen4, nicht nur inBerlin5.
Wie die Umfrageergebnisse in Abbildung 3 jedoch zeigen, ist eine Mietobergrenze bei den Befragten die am wenigsten beliebte Lösung für steigende Mieten. Dies gibt Anlass zur Hoffnung, dass in der Schweiz wirksamere Lösungen für die wachsende Wohnungsknappheit gefunden werden können. Die Verdichtung der Städte beispielsweise, eine Massnahme zur Erhöhung des Angebots durch die Schaffung von mehr Wohnraum, steht mit 42 Prozent an zweiter Stelle der Zustimmung. Weitere Massnahmen zur Erhöhung des Angebots, wie die Aufstockung der Mittel für den Bau von Wohnimmobilien, Sozial- oder Genossenschaftswohnungen, gehen ebenfalls in diese Richtung. Diese Massnahmen schaffen ebenfalls mehr Wohnraum, allerdings nur für bestimmte Gruppen (Bauträger, sozial schwächere Haushalte, Genossenschaftsmitglieder) und auf Kosten der Allgemeinheit, die die Finanzierung übernimmt. Eine stärkere Unterstützung für Wohneigentum ist bei den Befragten, die in ländlichen Gebieten leben, am beliebtesten (42 Prozent gegenüber 38 Prozent insgesamt). Sie haben auch eine etwas höhere Wahrscheinlichkeit, eine Meinung zu diesem Thema zu haben (59 Prozent gegenüber 53 Prozent). Insgesamt zeigt die Umfrage, dass viele Menschen keine Meinung zu einem Thema haben, das viele Menschen persönlich betrifft (Ende 2021 lebten 61 Prozent aller Schweizer Haushalte in Mietwohnungen, so das Bundesamt für Statistik).
Die Kappung von Mieterhöhungen, selbst wenn der Referenzzinssatz steigt, findet eine relativ hohe Unterstützung (31 Prozent). Der Bundesrat hat vor kurzem eine Überprüfung des aktuellen Mietpreismodells angekündigt und eine Reihe von Abfederungsmassnahmen vorgestellt, die kurzfristig umgesetzt werden können. Der Bundesrat reagiert also - die Frage ist nur, wie ausgewogen und wirksam die vorgeschlagenen Massnahmen sind und wie schnell sie umgesetzt werden können. Diese kamen sofort nach ihrer Veröffentlichung von verschiedenen Seiten unter Druck.6
Ähnliche Beobachtungen lassen sich für die zweite Gruppe der in der Umfrage untersuchten politikgesteuerten Preise machen: die Krankenversicherungsprämien (siehe Abbildung 4). Diese stehen im Herbst, wenn die Preise für das kommende Jahr bekannt gegeben werden, ganz besonders im Mittelpunkt des Interesses. Auch hier sind die Menschen direkt betroffen, es gibt keine einfachen Lösungen und rund 50 Prozent sagen, dass sie keine Meinung dazu haben.
Wie bei den Fragen zu den Massnahmen gegen steigende Mieten ist auch bei den Krankenkassenprämien die Zustimmung ziemlich gleichmässig zwischen Symptombekämpfung und wirksamen Lösungen aufgeteilt. So kann die Massnahme mit der höchsten Zustimmungsrate - die Verlängerung der Prämienverbilligung - als weitgehend unwirksame Lösung aus Sicht des Systems eingestuft werden. Es ist besser, wenn Menschen mit geringem Einkommen durch ihre Gesundheitskosten nicht übermässig belastet werden. Das ist ein Hauptzweck der Krankenversicherung. Doch die Umverteilung der Kosten löst nicht das grundlegende Problem der übermässig hohen und steigenden Kosten. Es wäre besser, die Kosten in den Griff zu bekommen.
Aber auch effektivere Lösungen wie eine stärkere Digitalisierung des Gesundheitswesens haben recht hohe Zustimmungswerte. Auch eine höhere Kostenbeteiligung der Patienten oder eine Begrenzung der Vergütung der Leistungserbringer stossen auf recht grosse Zustimmung. Eine Einschränkung der Leistungen ist dagegen höchst unpopulär. Eine Erhöhung der steuerlichen Absetzbarkeit von Krankenversicherungsprämien fand die geringste Unterstützung (2 Prozent).
Die Kaufkraft und der erodierende Effekt der Inflation sind wichtige Themen, die buchstäblich das Geld in den Taschen der Menschen betreffen. Dementsprechend reagieren die Menschen in der Schweiz empfindlich auf steigende Preise, wie unsere Umfrage zeigt. Das gilt für die Verbraucherpreise ebenso wie für politisch bedingte Preissteigerungen wie Mieten und Krankenkassenprämien. Letztere stehen derzeit im Mittelpunkt des Interesses, und der politische Druck zum Handeln wächst. Aber nicht alle Lösungen sind gut: Es besteht ein erhebliches Risiko von Schnellschüssen.
Zu diesen und anderen wirtschaftlich wichtigen Fragen werden die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bald Stellung nehmen können. Den Anfang machen die Abstimmungen über zwei gegensätzliche Renteninitiativen im März 2024. Sie sind in Bezug auf die Generationengerechtigkeit gegensätzlich: Während die eine Initiative darauf abzielt, die jüngeren Generationen zu entlasten, würde die zweite zu noch höheren Beiträgen führen. Die Alterung der Bevölkerung wird ohnehin zu einer grösseren Belastung der jüngeren Generationen führen, während viele der heutigen Rentner finanziell sehr gut gestellt sind7. Anstelle einer teuren flächendeckenden Rentenerhöhung wäre die gezielte Bekämpfung der Altersarmut systemisch besser - und gerechter.
Diese und andere Entscheidungen werden zeigen, ob die Schweiz der doppelten Herausforderung gewachsen ist, echte Lösungen für ihre drängenden wirtschaftlichen Probleme (z.B. steigende Lebenshaltungskosten und Gesundheitsversorgung) zu finden und die Lösungen so zu gestalten, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz erhalten bleibt.
Wenn die Schweiz eine Insel der Glückseligkeit bleiben soll, wird dies nicht von selbst geschehen, sondern erfordert harte Arbeit. Sollten die Grundlagen, nämlich die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft, erodieren, besteht die Gefahr, dass wir in das uns umgebende Meer der Mittelmässigkeit abrutschen. Wenn wir unseren Vorsprung verlieren, steht viel mehr auf dem Spiel als steigende Mieten oder Versicherungsprämien. Das Risiko wäre ein weit verbreiteter Verlust an Wohlstand.
Referenzen
1 Siehe zum Beispiel: Rezession: Die Schweiz kommt besser durch die Krise als Europa (nzz.ch) (nur Deutsch)
2 Kaufkraft, wie erhoben vom GFK, definiert als das verfügbare Einkommen ohne Steuern und Sozialabgaben inklusive Transferleistungen, Die Kaufkraft der Europäer steigt 2023 auf 17.688 Euro (gfk.com) (nur Deutsch)
3 Die Inflationsraten für die Schweiz und Estland werden von Dezember 2020 bis Dezember 2023 berechnet, für Deutschland und das Vereinigte Königreich von Dezember 2020 bis November 2023.
4 Siehe zum Beispiel: What does economic evidence tell us about the effects of rent control? | Brookings
5 Siehe zum Beispiel: Entwicklungen am Berliner Immobilienmarkt ein Jahr nach dem Mietendeckel (ifo.de) (nur Deutsch)
6 Der Bundesrat will gegen die steigenden Mieten vorgehen (nzz.ch) (nur Deutsch)
7 Mit den Rentnern will sich niemand anlegen (nzz.ch) (nur Deutsch)