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Interview mit Thomas Greminger

Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik

Auswirkungen der aktuellen geopolitischen Situation auf Schweizer Unternehmen

Thomas Greminger

Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik
Botschafter Thomas Greminger ist seit dem 1. Mai 2021 Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP). Zuvor war er von Juli 2017 bis Juli 2020 Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Botschafter Greminger war von 2015 bis 2017 stellvertretender Generaldirektor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten und von 2010 bis 2015 Ständiger Vertreter der Schweiz bei der OSZE, den Vereinten Nationen und den Internationalen Organisationen in Wien. Botschafter Greminger hat an der Universität Zürich in Geschichte promoviert. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu Militärgeschichte, Konfliktmanagement, Friedenssicherung, Entwicklung und Menschenrechten.

swissVR Monitor: Welche Auswirkungen haben die aktuellen geopolitischen Entwicklungen – wie beispielsweise der Krieg in der Ukraine – auf die Wirtschaft?

Thomas Greminger: Die geopolitische Rivalität, vor allem zwischen den Vereinigten Staaten und China, die durch die tiefe Kluft zwischen Russland und dem Westen noch verstärkt wird, führt zu einer weiteren Aufspaltung der Weltwirtschaft in zwei Blöcke, die von den USA und China dominiert werden und Europa und Russland als zweitrangige Partner haben. Der Krieg in der Ukraine dämpft die Aussichten auf eine Erholung der Weltwirtschaft nach der Pandemie. So besteht beispielsweise in mehreren Volkswirtschaften die grosse Gefahr einer Stagflation. Es ist zwar noch zu früh, um abschätzen zu können, welche Auswirkungen der Krieg mittel- bis langfristig haben wird, aber schon jetzt zeichnen sich einige stark betroffene Sektoren und Risikobereiche ab. Nahrungsmittel- und Energiesicherheit sind ganz klar am stärksten betroffen. Dies wird wirtschaftliche und humanitäre Auswirkungen haben, kann aber auch zu politischer Destabilisierung führen, insbesondere in Ländern, in denen die Staatsführung bereits angeschlagen ist.

swissVR Monitor: Und welche Auswirkungen ergeben sich konkret für Unternehmen in der Schweiz?

Thomas Greminger: Die wirtschaftlichen Aussichten sind weltweit eher düster. Die Schweiz ist jedoch relativ isoliert von den Volkswirtschaften Russlands (0,4 % der Schweizer Importe und 1 % der Schweizer Exporte) und der Ukraine (0,2 % der Schweizer Exporte und 0,1 % der Schweizer Importe).(1) Daher beeinträchtigt es die Schweizer Unternehmen nur geringfügig, wenn der Zugang zu diesen Märkten aufgrund von Sanktionen oder anderen Auswirkungen des Krieges verloren geht. Allerdings müssen sich die Unternehmen, die im Jahr 2021 Waren im Wert von 3 Milliarden Dollar
nach Russland exportiert haben, darauf einstellen müssen, dass sie dauerhaft vom Markt abgeschnittenen sein werden.(2)

Bei den Schweizer Exporten handelt es sich hauptsächlich um «hochwertige» Güter. Derartige Güter sind von der Inflation weniger betroffen. Die Energiekosten werden aber steigen, beim Strom wird mit einer Erhöhung von 20 % gerechnet. Dies wird auch Konsequenzen für die Energiekosten der Schweizer Unternehmen haben. Letztendlich können Schweizer Unternehmen auch deshalb den Auswirkungen des Krieges nicht entgehen, weil die Wirtschaft der EU unter den Folgen des Krieges leidet. Die Schweizer Wirtschaft ist viel stärker mit ihren EU-Nachbarn verflochten (43% der Schweizer Exporte, 52% der Importe).(3)

swissVR Monitor: Was würde eine Wiederaufnahme des Kalten Krieges oder eine neue Sicherheitslage in Europa für Schweizer Unternehmen bedeuten?

Thomas Greminger: Der Krieg in der Ukraine könnte eine Periode einleiten, in der sich die weltweite Macht- und Sicherheitsdynamik neu ordnet. Russland und China versuchen, das derzeitige System, das dem Westen Vorteile bringt, zu beenden. Diese Zeit der Unsicherheit könnte die Struktur der Weltwirtschaft verändern. So könnten beispielsweise die Handelsströme und Märkte je nach geopolitischen Interessen stärker eingeschränkt werden. Ausserdem könnte die erwähnte Rückkehr zur Blockpolitik dazu führen, dass wirtschaftlich integrierte geopolitische Einheiten entstehen, die von anderen geopolitischen Blöcken relativ isoliert sind. Dadurch besteht die Gefahr, dass Schweizer Unternehmen in Zukunft längere Zeit keinen Zugang zu bestimmten Märkten haben werden.(4)

swissVR Monitor: Wie soll sich die Schweizer Wirtschaft angesichts der aktuellen geopolitischen Entwicklungen positionieren?

Thomas Greminger: Angesichts der neuen Gegebenheiten hat die die Schweizer Wirtschaft die Wahl zwischen zwei verschiedenen Ansätzen: Entweder sie konzentriert sich auf sichere und geopolitisch nahe gelegene Wirtschaftspartner wie die Europäische Union (die bereits ihr wichtigster Wirtschaftspartner ist) oder sie erweitert die Anzahl und die Herkunft der Partner: Diversifizierung ist ein entscheidender Vorteil, wenn die Auswirkungen eines Schocks begrenzt werden sollen.(5) Darüber hinaus scheint Diversifizierung auch ein geeignetes Mittel zu sein, um auf die aktuellen Unterbrechungen der Lieferkette zu reagieren.

Die Inflationsrate in der Schweiz hat ein 29-Jahres-Hoch erreicht, und die Schweizerische Nationalbank hat entsprechende Massnahmen ergriffen und die Zinssätze angehoben.(6) Eine Neubewertung des Frankens wäre eine Massnahme, die der Inflation entgegenwirken könnte. Die Schweiz befindet sich jedoch im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn in einer stabilen wirtschaftlichen Lage. Die Inflation ist dort höher und wenn die Zinsen weiter steigen, könnte es dort zu Instabilität kommen.(7) Die Europäischen Union ist der erste Wirtschaftspartner der Schweiz, daher wäre es nachteilig für uns, wenn sie eine schwere Wirtschaftskrise durchmachen würde. Da wir dieses Szenario nicht ausschliessen können, sollten wir alles Erdenkliche tun, damit es nicht so weit kommt, beispielsweise durch Unterstützung weltweiter Massnahmen für Stabilität und Sicherheit.

swissVR Monitor: Sehen Sie neben den Risiken auch Chancen für Schweizer Unternehmen in der aktuellen geopolitischen Situation?

Thomas Greminger: Eine besonders kritische direkte Folge der aktuellen geopolitischen Situation ist die Preisschwankung bei den Rohstoffen. Die Schweiz ist ein bedeutender Handelsplatz: 550 Unternehmen handeln hier mit Rohstoffen wie Öl und Metallen und wir sind Weltmarktführer beim Getreidehandel.(8) Leider machen sich einige Unternehmen die Sanktionen zunutze, indem sie den Handel mit russischem Öl ausweiten, anstatt ihn zu verringern, um noch schnell so viel Profit wie möglich zu machen, bevor das Embargo in Kraft tritt.(9) Dieser Art von Opportunismus ist nicht zu begrüssen, er wird aber wahrscheinlich immer wieder zu beobachten sein, wenn politische Massnahmen zur Beeinflussung der Wirtschaft eingesetzt werden.

Auch wenn die Schweiz nicht in hohem Masse von russischer Energie abhängig ist, so ist sie bei ihren Energieimporten doch anfällig für Marktveränderungen. Hier bietet sich eindeutig eine Gelegenheit, sich stärker im Bereich der nachhaltigen Energie zu engagieren, und zwar unter Beteiligung lokaler Unternehmen, wie von der Eidgenossenschaft und einigen Kantonen geplant.(10) Diese Krise sollte als Chance genutzt werden, um eine umweltfreundlichere Wirtschaft zu fördern.

swissVR Monitor: Wie wirken sich die aktuellen geopolitischen Entwicklungen auf die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wirtschaft in der Schweiz und auf internationaler Ebene aus?

Thomas Greminger: Die Schweiz hat sich dafür entschieden, sich dem umfassenden Paket von Sanktionen der EU anzuschliessen. Das hat Auswirkungen auf die Wirtschaft, denn: Die Schweiz ist ein wichtiger Handelsplatz, auch für russisches Öl. Regierung und privater Sektor müssen bei der Umsetzung der Sanktionen zusammenarbeiten. Die Wirtschaft muss sich anpassen und sie ist gezwungen, die Hauptlast von Massnahmen zu tragen, die auf politische Ziele ausgerichtet sind. Dies gilt auch im weiteren Sinne, denn der Einsatz von Finanzinstrumenten und Sanktionen zur Erreichung politischer Ziele wird in Zukunft wahrscheinlich zunehmen und ein Standardbestandteil der Konfliktbewältigung sein. In diesem Zusammenhang ist eine starke Koordination zwischen Politik und Wirtschaft gefragt: Grossmächte wollen wirtschaftliche Mittel einsetzen, um Druck auf der internationalen Bühne auszuüben, gleichzeitig geht es darum, die Auswirkungen solcher Praktiken auf die eigene Wirtschaft zu begrenzen.

  1. Schweizerische Eidgenossenschaft: «Handelspartner». 2022. Handelspartner (admin.ch)
  2. Trading economics. «Switzerland exports to Russia». 2022. https://tradingeconomics.com/switzerland/exports/russia
  3. «Switzerland-EU: international trade in goods statistics.» 2022. Switzerland-EU – international trade in goods statistics – Statistics Explained (europa.eu)
  4. «Switzerland Exports, Imports and Trade Partners». 2022. Switzerland (CHE) Exports, Imports, and Trade Partners | OEC – The Observatory of Economic Complexity
  5. «Switzerland-EU: international trade in goods statistics. 2022. Switzerland-EU – international trade in goods statistics – Statistics Explained (europa.eu)
  6. «Switzerland inflation rate hits 29-year High on Ukraine War». 2022. Swiss Inflation Hits 29-Year High on Ukraine War, Supply Chains – Bloomberg
  7. «Wirtschaftsprofessor Aymo Brunetti über die Inflation in der Schweiz: Wir müssen den Franken erstarken lassen». 2022. Wirtschaftsprofessor Aymo Brunetti über Inflation und Eurokrise – Blick
  8. Schweizerische Eidgenossenschaft: «Rohstoffhandel». 2022. Rohstoffhandel (admin.ch)
  9. «Traders with Swiss links continue to buy and sell Russian oil». 2022. Traders with Swiss links continue to buy and sell Russian oil – SWI swissinfo.ch
  10. SuisseEnergie ; République et Canton de Genève. «Plan directeur de l’énergie 2020-2030». 2020. Plan directeur de l’énergie 2020-2030 | ge.ch