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Die Coronavirus-Krise ist ein Weckruf für den Schweizer Arbeitsmarkt

Talent and Skills

Adecco und Deloitte sind zwei etablierte Unternehmen in der Schweiz, die eine klare Vision des zukünftigen Arbeitsmarktes haben. Monica Dell'Anna, CEO der Adecco Group Schweiz, und Reto Savoia, CEO von Deloitte Schweiz, machen sich Sorgen über die zunehmende Polarisierung des Arbeitsmarktes. Für sie sind Frauen einer der Schlüsselfaktoren für die Bekämpfung des Fachkräftemangels. Aber jeder muss mehr Verantwortung übernehmen, um fit für den Arbeitsmarkt zu bleiben.
Im Jahr 2020 hat sich der Fachkräftemangel in der Schweiz zum ersten Mal seit Jahren entspannt. Bedeutet dies, dass das Problem nun gelöst ist, weil aufgrund von COVID-19 weniger Fachkräfte benötigt werden?
 

Dell'Anna: Unsere Studie zum Fachkräftemangel zeigt, dass in der Schweiz insgesamt weniger Stellen ausgeschrieben wurden als im Jahr 2019 - gleichzeitig waren mehr Menschen auf der Suche nach einem Job. Im Frühjahr und Sommer 2020 hat sich eine beträchtliche Anzahl zusätzlicher Arbeitssuchender bei den regionalen Arbeitsämtern gemeldet, und viele haben sich sicherheitshalber im Voraus registriert. Aber der Fachkräftemangel ist nach wie vor da. Wie schon im Vorjahr führen Ingenieur- und Technologieberufe zusammen mit Buchhaltern die Rangliste an. Auch in der Pflege und in der Medizin war es oft schwierig, Stellen zu besetzen.

Savoia: Das ideale Szenario wäre ein ausgeglichener und gut funktionierender Arbeitsmarkt mit niedriger Arbeitslosigkeit, aber das ist derzeit nicht möglich. In einigen Branchen gibt es einen enormen Arbeitskräftemangel und in anderen einen Überschuss, wie etwa in der Gastronomie und im Tourismus. Der sich beschleunigende Strukturwandel in der Wirtschaft wird den Fachkräftemangel mittelfristig noch verschärfen. In Verbindung mit der Coronavirus-Krise könnte das Ungleichgewicht wachsen und damit auch die sozialen Probleme.

Der Strukturwandel wird den Fachkräftemangel noch verschärfen. In Verbindung mit der Coronavirus-Krise könnte das Ungleichgewicht in der Gesellschaft wachsen und damit auch die sozialen Probleme.

 

Reto Savoia, CEO Deloitte Schweiz

In welchen Berufen sehen wir ein Überangebot? Sehen Sie auch die Polarisierung, die Herr Savoia beschreibt?
 

Dell'Anna: Das grösste Überangebot gibt es im Handel. Diese Berufe haben besonders unter der COVID-19-Krise gelitten, die der Automatisierung und der Digitalisierung einen weiteren Schub verliehen und viele Arbeitsplätze obsolet gemacht hat. Ausserdem wird die Einstellung von Mitarbeitern in Notfällen oft gestoppt, weil neue Mitarbeiter nicht sofort ein Einkommen erzielen. Ausserdem haben die Unternehmen begonnen, viele Arbeitsplätze auszulagern. Und ja, Reto hat Recht, die Situation auf dem Arbeitsmarkt spitzt sich zu. Um dem entgegenzuwirken, müssen sich Einzelpersonen, Unternehmen und Politiker zusammentun, und das lebenslange Lernen muss in unserer Gesellschaft stärker verankert werden.

Savoia: Unsere Studie vom letzten Jahr hat gezeigt, dass die Schweizer Arbeitnehmer die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens leider stark unterschätzen. Meiner Meinung nach liegt dies eindeutig in den Händen des Einzelnen. Sie müssen die Verantwortung für ihre Karriere und Weiterbildung übernehmen. Unternehmen sollten dies unterstützen, indem sie ihren Mitarbeitern ausreichend Zeit zum Lernen geben und auch eigene Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten. Darüber hinaus sollten auch die Schulen einen stärkeren Schwerpunkt auf Fächer wie Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik legen.

Die COVID-19-Krise hat der Digitalisierung einen Schub gegeben und viele Arbeitsplätze obsolet gemacht. Arbeitnehmer, Unternehmen und Politiker müssen sich zusammentun und lebenslanges Lernen zu einem Muss machen.

 

Monica Dell'Anna, CEO Adecco Group Schweiz

Bei bestimmten hochspezialisierten Arbeitskräften scheint es im Moment einen akuten Mangel zu geben. Wer, würden Sie sagen, ist davon betroffen?
 

Savoia: Wir suchen händeringend nach IT- und Technologiespezialisten wie z.B. Cyber-Experten. Darüber hinaus sind junge Wirtschaftsprüfer derzeit sehr gefragt. Hochspezialisierte Experten sind von zentraler Bedeutung, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kunden. Es sollte daher auch für diese Menschen einfacher sein, aus Drittländern in die Schweiz zu kommen. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht viel zu kompliziert und unflexibel, insbesondere im Vergleich zu konkurrierenden Märkten wie Singapur, den Niederlanden und Irland. Die Regierung muss handeln, um prohibitive Vorschriften abzubauen und schwerfällige Verfahren zu vereinfachen.

Dell'Anna: Die Schweiz bildet nicht genügend hochspezialisierte Fachkräfte aus, vor allem in den Ingenieur- und Technologieberufen sowie in der Medizin und Pflege. Wir müssen unser Bildungssystem anpassen und mehr Wert auf MINT-Fächer legen. Ausserdem müssen wir Wege finden, um diese Fächer für Mädchen in der Schule attraktiver zu machen.

Aufgrund von COVID-19 hat Schweden Mitglieder des Kabinenpersonals zu Krankenschwestern umgeschult. Werden wir aufgrund des Ungleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft mehr Umschulungen dieser Art brauchen?
 

Dell'Anna: Auf jeden Fall. Vor ein paar Jahren hätten wir uns die Mobilität und Flexibilität, die wir heute sehen, nicht vorstellen können. Aber wir lernen gerade, dass dies eine der positiven Auswirkungen der Krise ist. In allen Berufen, in denen es einen Mangel an Fachkräften gibt, müssen die Bildungseinrichtungen innovativ sein und die Eintrittsbarrieren senken.

Savoia: Wir haben heute das Glück, in einem Land und einer Wirtschaft zu leben, in der die Menschen verschiedene Berufe nacheinander ausüben können. Aber es wird auch für Arbeitnehmer immer notwendiger, sich ständig neu zu erfinden. Umschulung und Weiterbildung sind hier wesentliche Massnahmen, aber auch das Lernen "on the job" ist sehr wichtig. Auch bei der Einstellung von Mitarbeitern müssen Arbeitgeber offener sein. Wir können z.B. nicht erwarten, dass jeder bereits ein Robotikexperte mit umfassenden Kenntnissen ist, wenn er für eine Stelle im Technologiebereich eingestellt wird. Und Sie brauchen auch immer gewisse Anreize vom Staat.

Unbesetzte Stellen können eine Belastung für Unternehmen und die Wirtschaft darstellen. Können Sie konkrete Beispiele nennen, oder halten Sie diese Befürchtungen für übertrieben?
 

Savoia: Vor ein paar Jahren beschloss Deloitte, seine Blockchain-Entwicklung in Irland zu konzentrieren, was in der Schweiz angesichts der komplexen Vorschriften für Arbeitnehmer aus Drittländern kaum möglich gewesen wäre. Einer unserer Kunden wollte ein Forschungszentrum in der Schweiz einrichten. Der designierte Manager erhielt jedoch lange Zeit keine Arbeitsgenehmigung, so dass man sich schliesslich für eine Niederlassung in einem Nachbarland entschied. Eine Schweizer Bank hat ihre Abteilung für Nachhaltigkeit aus ähnlichen Gründen in Singapur angesiedelt. Die Schweizer Regeln für die Einwanderung aus Drittländern sind zu starr. Infolgedessen können Top-Talente nicht hierher kommen, und die Unternehmen siedeln ihre innovativen Abteilungen im Ausland an.

Dell'Anna: Die genannten Beispiele sind keineswegs ungewöhnlich. Langfristige Leerstände behindern die wirtschaftliche Leistung und die Innovationsfähigkeit einzelner Unternehmen und ganzer Industriecluster. Innovation kommt nur durch Vernetzung zustande. Den Universitäten gelingt es nicht nur, die klügsten Köpfe aus der ganzen Welt anzuziehen, sondern dies macht die ganze Schweiz für innovative Unternehmen interessanter.

Ist es richtig, dass ein Überangebot an Arbeitskräften und eine hohe Arbeitslosigkeit derzeit die Wirtschaft belasten?
 

Dell'Anna: Im Vergleich zu anderen Ländern steht die Schweiz mit einer Arbeitslosenquote von 3,2% (im November) noch sehr gut da. Die Kurzarbeit ist ein sehr wirksames Instrument, um Massenentlassungen zu verhindern und den Unternehmen etwas Luft zu verschaffen. Wir können jedoch noch nicht vorhersagen, ob die Arbeitslosigkeit noch weiter ansteigen wird. Darüber hinaus ist die Zeitarbeit ein wirksames Mittel, um Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt zu halten und sie vor Arbeitslosigkeit zu schützen.

Savoia: Das Überangebot ist nicht das Problem an sich. Wir müssen die richtigen Leute finden, vor allem in den Wachstumsbereichen. Sonst geraten wir langfristig ins Hintertreffen. Die Schweiz hat noch einen relativ liberalen Arbeitsmarkt, der es den Unternehmen ermöglicht, schnell zu reagieren. Der Gesetzgeber ist jedoch in der Pflicht, das Arbeitsrecht endlich in das digitale Zeitalter zu bringen. Im Allgemeinen hat die Schweizer Wirtschaft den Coronavirus-Schock relativ gut verkraftet, und die Vermeidung einer zweiten Sperrung hat sehr geholfen. Aber es herrscht immer noch eine grosse Unsicherheit. In unserer umfassenden Standortstudie Power Up Switzerland haben wir acht zentrale Handlungsfelder identifiziert, die von Staat und Unternehmen koordiniert angegangen werden müssen, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen.

Schöpfen wir nicht das gesamte Potenzial aus, das Frauen auf den Markt bringen? Sie sind in IT- und Technologieberufen eindeutig unterrepräsentiert.
 

Dell'Anna: Wenn Frauen in technischen und naturwissenschaftlichen Fächern gezielter gefördert würden, wäre das ein grosser Schritt zur Lösung des Problems des Mangels. Die Unterrepräsentation von Frauen hängt mit den traditionellen Geschlechterrollen zusammen, die in der Schweiz immer noch fest verankert sind. Frauen werden davon abgehalten, eine MINT-Laufbahn einzuschlagen. Die Schweiz schneidet hier im Vergleich zu anderen Ländern schlecht ab. Einige arabische Länder bilden fast genauso viele Ingenieurinnen wie Ingenieure aus. Schweizer Schulen sollten Ingenieurinnen und Pilotinnen in ihre Klassenzimmer einladen und sie über ihre Berufe sprechen lassen. Das würde die Wahrnehmung der Kinder verändern und ihnen neue Möglichkeiten eröffnen.

Savoia: Es ist dringend notwendig, dass die Frauen in der Schweiz besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die sozialen und politischen Rahmenbedingungen in der Schweiz sind immer noch nicht sehr fortschrittlich. Wir brauchen mehr Tagesschulen und Kinderbetreuungsmöglichkeiten und vor allem Vorbilder. In unserem Unternehmen stelle ich immer wieder fest, dass es meist Frauen aus anderen Ländern sind, die sehr karriereorientiert und ehrgeizig sind. Aufgrund des sich abzeichnenden Arbeitskräftemangels wird die Schweiz in Zukunft aber auch ältere Arbeitnehmer besser integrieren müssen. Eine unserer Studien hat gezeigt, dass die Mehrheit gerne länger arbeiten und flexibler in den Ruhestand gehen würde. Mittelfristig gibt es keine andere Möglichkeit, als das Rentenalter zu erhöhen.

Ein entsprechender Artikel wurde am 26. November 2020 in der NZZ veröffentlicht. 

Dieses Interview basiert auf einem Gespräch zwischen den beiden CEOs und der NZZ-Redakteurin Nicole Rütti.

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