Perspektiven

Schweizer Unternehmen zwischen Digitalisierung und Verantwortung

Adam Stanford, Consulting Leader, Deloitte Schweiz

Die Zeiten, in denen Unternehmen einzig nach Gewinnmaximierung strebten, sind vorbei. Automatisierung und Digitalisierung bringen neue Perspektiven und weisen den Weg zu verantwortungsvollerem Handeln. Immer mehr Schweizer Unternehmen intensivieren ihre Anstrengungen auf diesem Gebiet. Die Ergebnisse des neuen Deloitte Global Readiness Report und Studien von Deloitte Schweiz helfen uns, diesen Transformationsprozess aufzuzeigen.

Der Trend hin zu mehr sozialer Verantwortung von Unternehmen scheint eine neue Art eines verantwortungsbewussteren Kapitalismus entstehen zu lassen, der breitere Interessengruppen berücksichtigt und neben finanzieller Leistung auch soziale Auswirkungen misst. Im August 2019 unterzeichneten die Chefs von fast 200 multinationalen Konzernen eine Erklärung, in der sie sich öffentlich verpflichteten, ihre Unternehmen nicht nur im Hinblick auf den Nutzen ihrer Aktionäre, sondern auch im Hinblick auf den Nutzen ihrer Kunden, Mitarbeitenden, Lieferanten und der Gesellschaft zu führen.

Schweizer Unternehmen scheinen dieser Entwicklung etwas hinterherzuhinken. Zudem werden sich auch noch von der Politik herausgefordert mit der Konzernverantwortungsinitiative. Diese will Unternehmen zu einer Bewertung ihrer eigenen Aktivitäten und derjenigen ihrer Tochtergesellschaften nach den Massstäben von Menschenrechten und Umweltinteressen verpflichten. Die für dieses Jahr geplante Abstimmung zu dieser Volksinitiative wird mit Sicherheit hitzige öffentliche Diskussionen auslösen und das Thema ganz oben auf die Tagesordnung der Schweizer Unternehmen rücken.

Im dritten, jährlich erscheinenden globalen Readiness Report, für den über 2000 hochrangige Führungskräfte befragt wurden, untersuchte Deloitte die Schnittstelle zwischen digitaler Bereitschaft und Verantwortung. Wir wollten festzustellen, wie Führungskräfte den Übergang zu Industrie 4.0 bewältigen. Wir haben auch untersucht, wie sie fortschrittliche Technologien nutzen, um ihre Unternehmen voranzubringen und gleichzeitig ihre Aktivitäten sozial verantwortungsvoller gestalten, vor allem im Bereich Umweltschutz.

Strategie führt zu Erfolg

Für die Schweiz durchgeführte Studien von Deloitte haben ergeben, dass die Unternehmen unseres Landes immer noch erheblichen Spielraum für Verbesserung haben, wenn es um Implementierung digitaler Technologien geht. Auch auf globaler Ebene setzt sich das kurzfristige Denken und die mangelnde Bereitschaft zur effektiven und ganzheitlichen Nutzung der technologischen Vorteile von Industry 4. leider fort: Zwei Drittel der für den Readiness Report befragten Führungskräfte erklärten, ihre Unternehmen hätten entweder keine formalen Strategien oder würden Ad-hoc-Ansätze verfolgen. Im Gegensatz dazu sagten nur zehn Prozent der befragten Führungskräfte, sie verfügten über längerfristige Strategien zur Nutzung neuer, über die Grenzen ihrer Unternehmen hinausreichender Technologien.

Das ist schade, legen die Umfragedaten doch nahe, dass Unternehmen mit umfassenden Industrie-4.0-Strategien die Nase durchwegs weit vorn haben. Bei erfolgreicher Integration von Industrie-4.0-Technologien innovieren und wachsen sie schneller und es gelingt ihnen besser, die richtigen Mitarbeitenden zu rekrutieren und zu entwickeln. Ihre Führungskräfte sind auch zuversichtlicher, dass ihre Unternehmen im Industrie-4.0-Zeitalter eine wichtige Rolle spielen werden.

Anerkennung der Unternehmensverantwortung

Es zeigt sich weiter, dass die meisten Unternehmen beginnen, ein Gleichgewicht zwischen Gewinnstreben und Sinnhaftigkeit zu finden – eine Entwicklung, die vor allem dem verstärkten Druck von Kunden, Mitarbeitenden und anderen Interessengruppen geschuldet ist. Tatsächlich stellen nach eigenen Angaben fast vier von zehn Befragten soziale Themen in den Vordergrund, weil externe Interessengruppen dies verlangen.

Fast 70 Prozent jener CXOs, deren Strategien Industrie 4.0 einbeziehen, gaben an, ihrem Ziel, profitabel zu wirtschaften und gleichzeitig positive Beiträge zur Gesellschaft zu leisten, viel nähergekommen zu sein als die 10 Prozent, die über keine solchen Strategien verfügen.

Es ist auffallend, dass fast alle von uns befragten Wirtschaftsführerinnen und Wirtschaftsführer befürchten, der Klimawandel könnte sich negativ auf ihre Unternehmen auswirken. Die Hälfte der Befragten bezeichnet den Kampf gegen den Klimawandel als wichtigste Priorität ihrer Generation. Die Befragten sind sich also ihrer Verantwortung zu handeln sehr wohl bewusst – viele führen Programme in den Bereichen Ressourcenknappheit und ökologische Nachhaltigkeit durch. Über 90 Prozent erklärten, ihre Unternehmen hätten Nachhaltigkeitsinitiativen entweder bereits eingeführt oder in Planung.

Unsere speziell für die Schweiz unter Finanzchefs durchgeführte Umfrage ergibt ein anderes Bild: Der Klimawandel ist ein Thema, das zwar auf der Agenda der Verwaltungsräte von Schweizer Unternehmen steht, derzeit aber noch keine grosse Sorge bereitet. Die Finanzchefs konzentrieren sich eigenen Angaben zufolge eher auf kurzfristige Herausforderungen. Wenn sie auf lange Sicht im Geschäft bleiben und erfolgreich sein möchten, sollten sie den Klimawandel und die mit dieser Herausforderung verbundenen Chancen in den Vordergrund stellen, aber auch eine aktive Rolle im Kampf gegen die globale Erwärmung übernehmen.

Bekenntnis zu Weiterbildung und Personalentwicklung

Die Unternehmen kämpfen darum, sicherzustellen, dass ihre Belegschaften über die Fähigkeiten verfügen, die sie brauchen, um in einem Industrie-4.0-Umfeld erfolgreich zu sein. Nur 20 Prozent der Führungskräfte halten ihre Unternehmen derzeit für bereit und nur 10 Prozent sehen sich auf gutem Weg, wenn es darum geht, die richtigen Talente zu identifizieren, anzuziehen und zu binden.

Interessanterweise scheint sich jedoch die Verantwortung für die Entwicklung der für die Industrie 4.0 benötigten Skills verlagert zu haben. Eine wachsende Zahl von Unternehmen übernimmt die Verantwortung für die Entwicklung ihrer Mitarbeitenden selbst. Über 80 Prozent der Befragten erklärten, eine Kultur des lebenslangen Lernens geschaffen zu haben oder dabei zu sein, dies zu tun. Weitere 17 Prozent erklärten, sie hätten dies vor, und Weiterbildung zähle zu einer ihrer wichtigsten Investitionsprioritäten.

Auch die Millennials verlangen von ihren Arbeitgebern mehr Weiterbildungsmöglichkeiten. Wir fragten 300 Schweizer Millennials, wer ihrer Meinung nach den grössten Teil der Verantwortung für ihre Vorbereitung auf Industrie 4.0 trägt. 34 Prozent sahen diese Verantwortung bei ihren Unternehmen und Arbeitgebern, und nur 18 Prozent sahen sich selbst in der Pflicht. Ausserdem zeigte die Arbeitnehmerbefragung von Deloitte Schweiz, dass die Arbeitnehmenden unzureichend ausgebildet sind und dass lebenslanges Lernen zu einem integralen Bestandteil der Unternehmenskultur gemacht werden muss.

Ein Teil der Herausforderung auf Unternehmensebene besteht laut dem Readiness Report darin, dass Führungskräfte noch immer nicht vollständig verstehen, welche Fähigkeiten notwendig sind, um sich in der sich weiter wandelnden Industrie-4.0-Welt erfolgreich behaupten zu können. 60 Prozent der Befragten erklärten aber, sie würden signifikante Investitionen tätigen, um zu verstehen, welche Fähigkeiten für den Erfolg ausschlaggebend sind.

«Disrupting competitors» noch keine Option

Da Unternehmen immer mehr Wert auf positive soziale Auswirkungen legen, sollten sich die Führungskräfte mit der Frage befassen, inwieweit ihnen Industrie-4.0-Technologien helfen könnten, diese Initiativen voranzutreiben. Bisher haben die Führungskräfte das Potenzial von Industrie-4.0-Technologien entweder noch nicht erkannt oder nutzen es noch nicht für soziale und ökologische Initiativen. Nur jede fünfte Führungskraft investiert nach eigenen Angaben in moderne Technologien mit positiver sozialer Wirkung.

Da die Führungskräfte das Transformationspotenzial moderner Technologien noch nicht für ihre Unternehmen ausschöpfen, überrascht es nicht, dass sie es auch nicht einsetzen, um ihre Konkurrenz auszubooten. Aus einer Liste von 10 möglichen Zielen der Industrie-4.0-Investitionen fand sich diese Option bei nur 3 Prozent der Führungskräfte unter den fünf obersten Prioritäten.

Technologe kann Initiativen anschieben

Zurück zum Grundlegenden: Der diesjährige Readiness Report geht der Frage auf den Grund, inwieweit sich traditionelle Geschäftsziele, transformative Technologien, sich verändernde Kompetenzen und eine wachsende Verpflichtung gegenüber dem Allgemeinwohl überschneiden. Einige Antworten, darunter jene, die Personalentwicklung und soziale Anliegen in den Vordergrund stellen, weisen auf Fortschritte hin. Andere, die das Festhalten an kurzfristigem Denken und Widerstand gegen den umfassenden Einsatz von Industrie-4.0-Technologien aufzeigen, lassen auf verpasste Chancen schliessen.

Wie so oft geraten fast nur Fehler und Unterlassungen in die Schlagzeilen. Für mich besteht aber kein Zweifel, dass Unternehmen viele Programme und Initiativen im Sozial- und Umweltbereich durchführen und dass diese Themen in der Prioritätenliste der Verwaltungsräte immer höher hinaufklettern. Trotzdem ist es wichtig: Verantwortungsvolle Unternehmen sollten ihre Strategie anpassen und transformative Technologien mit positiven geschäftlichen und sozialen Auswirkungen noch stärker berücksichtigen. Dadurch erreichen sie bereits in kürzerer Zeit ein wirklich nachhaltiges Gleichgewicht zwischen Gewinnstreben und Sinnhaftigkeit – zwischen Profit und Purpose.

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