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Stürmische Zeiten in der Energiewirtschaft – und die Stromnetze mittendrin

Interview mit Dr. Andreas Langer

Viele Energieexperten sprechen von einer Revolution im Strommarkt, die zwei Wertschöpfungsstufen besonders trifft: die Stromproduktion und die Stromnetze. Ausschlaggebend für diese Bewegung war vor allem der Beschluss der Bundesregierung aus dem Jahr 2011, bis 2022 aus der Kernenergie auszusteigen. Nun hat sich auch die Kohlekommission auf ein Ziel für den Kohleausstieg geeinigt. Im Interview haben wir den Strommarkt-Experten Dr. Andreas Langer, RA Leader Energy, Resources, Industrials bei Deloitte, zu diesen Entwicklungen befragt. Im Gespräch beschreibt er seine Zukunftsprognose und geht dabei konkret auf die Veränderungen für Netzbetreiber ein.

Inwiefern wird sich der Strommarkt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verändern?

Dr. Langer: Nachdem sich die Kohlekommission im Januar 2019 geeinigt hat, die Stromgewinnung aus Kohle zu beenden, muss im nächsten Schritt ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werden. Jedoch ist davon auszugehen, dass bis spätestens 2038 das letzte Kohlekraftwerk vom Netz geht. Das sind in Deutschland ca. 140 Braun- und Steinkohlekraftwerke mit einer Kapazität von 48 GW. Laut heutigem Stand gehen in den nächsten 20 Jahren aufgrund der Abschaltung von Kern- und Kohlekraftwerken über 50% der deutschen Stromproduktionskapazität in den Rückbau. Dieser Rückbau betrifft jedoch Kraftwerke, die verhältnismäßig einfach Stromnachfrageschwankungen im Netz ausgleichen können. Das hat massive Auswirkungen auf die Stromnetze, denn somit fehlen nicht nur lokal Produktionskapazitäten, um in den einzelnen Netzsektoren und -abschnitten Stromangebot und -nachfrage in Einklang zu bringen.
Die Produktionskapazitäten werden ersetzt durch Erneuerbare Energien – in Deutschland überwiegend durch Offshore- und Onshore-Windkraftanlagen – die ihrerseits nicht dann Strom ins Netz einspeisen, wenn er gebraucht wird, sondern wenn der Wind weht. Bis 2030 sollen 65% der Stromeinspeisung aus erneuerbaren Energien kommen – so die Zielsetzung der Bundesregierung. Die bereits heute auftretenden Stromangebots- und Stromnachfragespitzen – sogenannte positive und negative Residuallasten – werden in den nächsten Jahren daher voraussichtlich zunehmen und stellen für die Netzbetreiber eine Herausforderung dar.

 

Welche Aufgabe kommt in Zukunft den Netzbetreibern zu, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten?

Dr. Langer: Vor einigen Jahren standen noch die Stromproduktion und damit eine überschaubare Anzahl an Großkraftwerken im Mittelpunkt des energiewirtschaftlichen Systems. Heute sind es ganz klar die Netze, die bei einer großen Anzahl kleiner Energieerzeugungsanlagen und einer zunehmend dezentralen Stromproduktion das Gesamtsystem zusammenhalten. Die Anzahl der Redispatch-Maßnahmen der Transportnetztreiber, um das Netz zu stabilisieren, haben in den letzten Jahren zugenommen. Dabei sind für den Stromverbraucher zusätzliche Kosten in Milliardenhöhe entstanden. Auch die Aufgaben der Verteilnetzbetreiber werden komplexer. War deren zentrale Aufgabe früher, die Energie der Großkraftwerke aus den vorgelagerten Transportnetzen aufzunehmen und an Industrie, Haushalte und Gewerbe weiterzuleiten, kehrt sich heute im Verteilnetz der Energiefluss teilweise um, wenn Windenergie- und Photovoltaikanlagen in dieses Netz dezentral einspeisen. Die Komplexität der Netzführung über Höchstspannungs- bis Niedrigspannungsnetz hinweg und die Zusammenarbeit der Netzbetreiber auf unterschiedlichen Netzebenen wird dadurch stark zunehmen.
Um den Herausforderungen der Energiewende gerecht zu werden, ist der zeitnahe Ausbau der Transportnetze in Nord-Süd-Richtung, der Ausbau und die Modernisierung der Verteilnetze – auch z.B. für die Umsetzung der Elektromobilität – sowie die Digitalisierung der Netzbetreiber dringend notwendig. Bis 2030 sind daher Investitionen von über 100 Mrd. Euro in die Netze vorgesehen.

 

Das heißt, wir haben mit den Stromnetzen einen energiewirtschaftlichen Bereich, der in den nächsten Jahren wachsen wird?

Dr. Langer: In Deutschland gibt es über 1.600 Strom- und Gasnetzbetreiber. Viele der Netzbetreiber, insbesondere die Transportnetzbetreiber, bauen ihr Personal derzeit massiv aus und wachsen stark, auch im Hinblick auf Netz-Assets. Dennoch stehen viele Netzbetreiber jenseits des Wachstumskurses auch unter Margendruck, denn das durch das Anreizregulierungs-Regime der Bundesnetzagentur vorgegebene Vergütungssystem verlangt jährlich einen Effizienzbeitrag, das heißt, die Netzbetreiber müssen ihre Netz- und Systemdienstleistungen mit zunehmend geringeren Erlösen erbringen. Viele der Netzbetreiber haben daher erkannt, dass sie jenseits der Optimierung der Erlösobergrenze im Rahmen der Anreizregulierung weitere Maßnahmen ergreifen müssen. 

Wir erkennen zunehmend im Markt, dass beispielsweise systematische Performance Management-Konzepte, die auch in kostensensiblen Produktionsbereichen der Industrie zum Standard gehören, über alle Funktionsbereiche hinweg an Bedeutung gewinnen. Darüber hinaus beschäftigen sich viele Netzbetreiber auch mit neuen Geschäftsmodellen und hier insbesondere mit Nicht-Regulierten Dienstleistungen, wie zum Beispiel dem Erbringen von Instandhaltungsleistungen für andere Netzbetreiber oder Industrienetze. Aber auch Kooperationen mit anderen Netzbetreibern, um OPEX zu reduzieren, werden in Betracht gezogen. Wir von Deloitte haben zu diesen Themen bereits Netzbetreiber in Projekten begleitet und entwickeln unsere Ansätze und Konzepte fortlaufend weiter. Ab Mai werden wir mit unserer Initiative „Der Smarte Netzbetreiber“ den Markt der Netzbetreiber noch stärker in den Fokus nehmen und die Marktkommunikation verstärken. Dazu gehört auch, dass wir die bei Deloitte bereits vorhandenen Kompetenzen aus Risk Advisory, Consulting und Legal noch effizienter bündeln.