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"Monthly Dose" Arbeitsrecht: 04/2024

Ausgewählte aktuelle Rechtsprechung für die betriebliche Praxis

Inhaltsübersicht

Unsere Monthly Dose Arbeitsrecht zur aktuellen Rechtsprechung behandelt in der vierten Ausgabe 2024 die Entscheidungen

(1) des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 17.08.2023 (6 AZR 56/23) zu den Anforderungen an die „Geplante“ Betriebsänderung im Sinne des § 125 Abs. 1 S. 1 InsO in einem Interessenausgleich mit Namensliste zur Begründung der Vermutungswirkung der dringenden betrieblichen Erfordernisse der Kündigung,

(2) des BAG vom 13.12.2023 (5 AZR 137/23) zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach ordentlicher Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber,

(3) des BAG vom 14.12.2023 (6 AZR 157/22) und 01.02.2024 (2 AS 22/23 (A)) zur Wirksamkeit von Kündigungen bei fehlerhafter oder unterlassener Massenentlassungsanzeige, 

(4) des Landesarbeitsgerichts (LAG) Hamm vom 24.08.2013 (15 Sa 1033/22) und des LAG Hessen vom 18.08.2023 (10 Sa 1361/22) zur Entgeltfortzahlung bei behördlich angeordneter Quarantäne trotz unterlassener Impfung, 

(5) des LAG Baden-Württemberg vom 11.01.2024 (3 Sa 4/23) zur Zulässigkeit einer einseitigen Umstellung bisher gewährter jährlicher Sonderzahlungen auf vorfällige, monatliche Teilzahlungen und deren Anrechnung auf den gesetzlichen Mindestlohn, 

(6) des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 27.09.2023 (L 2 BA 59/22) zu den Auswirkungen einer Minderheitsbeteiligung eines Fremdgeschäftsführers an der Muttergesellschaft auf den sozialversicherungsrechtlichen Status bei der Tochtergesellschaft sowie

(7) des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.12.2023 (C-206/22) zum Anspruch auf Übertragung von Jahresurlaub bei angeordneter Quarantäne für Zeiträume bis zum 16.09.2022 (vor Inkrafttreten des § 59 Abs. 1 IfSG).

1. Anforderungen an die „Geplante“ Betriebsänderung im Sinne des § 125 Abs. 1 S. 1 InsO in einem Interessenausgleich mit Namensliste zur Begründung der Vermutungswirkung der dringenden betrieblichen Erfordernisse der Kündigung (BAG Urt. V. 17.08.2023, 6 AZR 56/23)

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte in seinem Urteil vom 17.08.2023 (6 AZR 56/23) Gelegenheit, seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an den Status der „Geplanten” Betriebsänderung im Sinne des § 125 Abs. 1 S. 1 InsO zur Begründung der Vermutungswirkung für die dringenden betrieblichen Erfordernisse einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf der Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste zu einer geplanten Betriebsänderung nach Maßgabe des § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO weiterzuentwickeln.

Im dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall stritten die Parteien über die Wirksamkeit zweier ordentlicher betriebsbedingter Kündigungen. Der klagende Mitarbeiter war seit Dezember 2011 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt, die ein Unternehmen zur Herstellung und des Vertriebs von Spezialprofilen aus Stahl und Stahlerzeugnissen mit den Bereichen Walzwerk, Ziehwerk und Technikum betrieb. 

Am 01.03.2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Der Beklagte führte im Insolvenzverfahren zunächst den Betrieb der Insolvenzschuldnerin – mit Verlusten – fort und schloss am 27.03.2020 mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich, der einen Personalabbau mit der Kündigung der Arbeitsverhältnisse von 61 Mitarbeitern inkludierte (Erster Interessenausgleich). Der Kläger war hiervon nicht umfasst. 

Der Beklagte führte in der Folgezeit mit einzelnen Interessenten Verhandlungen über eine Veräußerung des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin. Angesichts der unveränderten verlustträchtigen Fortführung des Geschäftsbetriebs verhandelte er parallel mit dem Betriebsrat den Abschluss eines weiteren Interessenausgleichs (Zweiter Interessenausgleich), der eine geordnete Betriebsschließung mit Ausproduktion bis zum 31.05.2021 vorsah. Der Zweite Interessenausgleich war am 28.05.2020 ausverhandelt; er wurde an diesem Tag noch nicht von den Betriebsparteien unterzeichnet, da der Gläubigerausschuss in seiner Sitzung am 28.05.2020 beschloss, die Verhandlungen über die Veräußerung des Geschäftsbetriebs fortzuführen. Da die Verhandlungen auch bis zur nächsten Sitzung des Gläubigerausschusses am 24.06.2020 ergebnislos verliefen, stimmte dieser am 24.06.2020 dem Zweiten Interessenausgleich zu. Die Betriebsparteien unterzeichneten noch am gleichen Tag den Zweiten Interessenausgleich, der Beklagte erstattete die relevante Massenentlassungsanzeige und kündigte anschließend die Arbeitsverhältnisse der zu diesem Zeitpunkt noch bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigten Mitarbeiter.

Das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger kündigte der Beklagte am 29.06.2020 unter Beachtung der maßgeblichen ordentlichen Kündigungsfrist zum 31.05.2021 (Erste Kündigung). Der Kläger berief sich nach Zugang der Ersten Kündigung auf den Sonderkündigungsschutz als Schwerbehinderter und der Beklagte beantragte bei der zuständigen Behörde die Zustimmung zu einer erneuten Kündigung, die diese am 19.08.2020 mit dem Hinweis erteilte, dass der Kläger den Status als Schwerbehinderter nicht beanspruchen könne. Der Beklagte erklärte daraufhin am 20.08.2020 vorsorglich eine weitere Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.05.2021 (Zweite Kündigung). 

Parallel hatte am 01.07.2020 ein weiterer Interessent gegenüber dem Beklagten das Interesse am Erwerb des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin bekundet, führte nach einer am 07.08.2020 unterzeichneten Vertraulichkeitsvereinbarung eine Due Diligence durch und unterzeichnete am 22.02.2021 einen Kaufvertrag über den Erwerb eines Teils des Betriebs, des Walzwerks.

Der Kläger begehrte mit seiner Klage die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Erste Kündigung und durch die Zweite Kündigung nicht beendet worden sei. Das LAG Hamm gab der Klage statt und führte in Bezug auf den Zweiten Interessenausgleich aus, das diesem nicht die Vermutungswirkung nach § 125 Abs.1 S. 1 InsO innewohne, da der Beklagte nicht nachgewiesen habe, dass er im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs die Stilllegung des gesamten Betriebs bereits ernstlich und endgültig geplant und bereits eingeleitet habe. 

Das BAG wies die Klage ab. Es erkannte die Zweite Kündigung für wirksam (und erkannte die Klage in Bezug auf die Erste Kündigung aus diesem Grund für unzulässig, da beide Kündigungen auf das gleiche Beendigungsdatum des 31.05.2021 gerichtet waren). Der Beklagte könne für die Kündigung die Vermutungswirkungen des § 125 Abs. 1 InsO anwenden, indem er die Tatbestandsvoraussetzungen des § 125 Abs. 1 S. 1 InsO hinreichend dargelegt habe. Der Begriff „geplant“ erfordere, dass (1) der Insolvenzverwalter ernstlich entschlossen ist, die Betriebsänderung im Sinne des § 111 S. 3 BetrVG durchzuführen, (2) die Betriebsänderung zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs noch im Planungsstadium sei und sich insoweit nicht schon in der unumkehrbaren Durchführung befinden darf, und (3) die Voraussetzungen der Betriebsänderung im Sinne des § 111 S. 3 BetrVG auch bei Abschluss des Interessenausgleichs noch erfüllt sind.

Das BAG stellt zugleich klar, dass (1) für die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO nicht maßgeblich ist, ob die Betriebsstilllegung zum Zeitpunkt des Zugangs der relevanten Kündigung bereits eingeleitet oder schon greifbare Formen angenommen habe, und (2) die Vermutungswirkung nach § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO nur dann nicht mehr gelte, wenn sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert habe  (§ 125 Abs. 1 S. 2 InsO); etwa wenn die Geschäftsgrundlage für den Interessenausgleich weggefallen wäre. Dies sei der Fall, wenn die Parteien zu dem Zeitpunkt der Kündigung einen Interessenausgleich mit demselben Inhalt nicht mehr geschlossen hätten – und dies habe der hierzu beweisbelastete Kläger nicht dargelegt. Die vor der Veräußerung des Walzwerks durchgeführte Due-Diligence-Prüfung des weiteren Interessenten habe als Beweis für eine Änderung der Sachlage nicht gereicht. Der abschließende Verkauf hat erst im Februar 2021 und somit nach Ausspruch der Kündigung stattgefunden. Die bloße Möglichkeit eines Verkaufs habe noch nicht zu einer Änderung der Sachlage geführt. 

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung stellt klar und zeigt auf, dass bei einer Restrukturierung in der Insolvenz eine sorgfältige Planung und Durchführung der Interessenausgleichsverhandlungen die wesentliche Voraussetzung für die Inanspruchnahme die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 S. 1 InsO bildet. Sie ist aus insolvenzarbeitsrechtlicher Sicht insbesondere in den Fällen hilfreich, in denen der Insolvenzverwalter im Insolvenzeröffnungsverfahren ein nicht kostendeckend wirtschaftendes Unternehmen vorfindet, für das er zugleich im Ausgangspunkt eine belastbare Opportunität der Veräußerung des (Geschäfts-)Betriebs oder eines Teils von diesem an einen oder mehreren Investoren sieht. Gestaltet sich der Erwerberprozess nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens schwierig und droht dem Insolvenzverwalter mit Blick auf die nicht kostendeckende Durchführung des operativen Geschäftsbetriebs die Zeit davon zu laufen, kann und hat er parallel zu den Verkaufsbemühungen eine Restrukturierung bis hin zu einer organisierten Ausproduktion/Stilllegung des Geschäftsbetriebs vorzubereiten und mit dem Betriebsrat hierzu Verhandlungen über einen entsprechenden Interessenausgleich zu führen. Erfüllt die relevante Restrukturierung zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs die Anforderungen an den geplanten Status der Betriebsänderung im Sinne des § 125 Abs. 1 S. 1 InsO, greifen für die relevanten Kündigungen die Vermutungswirkungen des § 125 Abs. 1 S. 1 InsO – mit der korrespondierenden deutlich erfolgversprechenden Rechtsposition für den Insolvenzverwalter bzw. im Fall der Veräußerung des restrukturierten Betriebs für den Betriebserwerber.

2. Erschütterung des Beweiswerts von ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nach ordentlicher Kündigung des Arbeitsverhältnisses (BAG Urt. v. 13.12.2023, 5 AZR 137/23)

In seinem Urteil vom 13.12.2023 (5 AZR 137/23) hatte das BAG Gelegenheit, seine Rechtsprechung zum Beweiswert von ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nach einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses fortzuführen.

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt stritten die Parteien über Entgeltfortzahlung wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Der klagende Mitarbeiter hatte der beklagten Arbeitgeberin am 02.05.2022 eine erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum vom 02.05.2022 bis zum 06.05.2022 vorgelegt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 02.05.2022 zum 31.05.2022, das dem Kläger am 03.05.2022 zuging. Der Kläger legte in der Folgezeit zwei Folgebescheinigungen der Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich zum 31.05.2022 (einem Dienstag) vor – und nahm zum 01.06.2022 ein neues Arbeitsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber auf.

Die Beklagte verweigerte gegenüber dem Kläger Entgeltfortzahlung wegen der angezeigten Arbeitsunfähigkeit mit Verweis darauf, dass angesichts der Koinzidenz zwischen der Kündigungsfrist und der über die ärztlichen Folgebescheinigungen bescheinigten Arbeitsunfähigkeit bis zum Zeitpunkt der kündigungsbedingten Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.05.2022 ernsthaft begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestünden und daher der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert sei, da der Zeitraum der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit exakt der Kündigungsfrist entspreche und der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses wieder arbeitsfähig geworden sei und eine neue Beschäftigung aufgenommen habe, und der Kläger keinen anderweitigen Beweis über die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit erbracht habe. 

Der Kläger erhob daraufhin Klage auf Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 02.05.2022 bis zum 31.05.2022, der die beiden erstinstanzlichen Gerichte stattgaben. Das BAG gab der Klage nur für den Zeitraum der ersten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 02.05.2022 bis 06.05.2022 statt und wies den Rechtsstreit im Übrigen zur Neuverhandlung und einen weitergehenden Vortrag der Parteien über die vom Kläger behauptete Arbeitsunfähigkeit auch für den Zeitraum vom 07.05.2022 bis zum 31.05.2022 in die zweite Instanz zurück.

Der Kläger habe einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung aus § 3 Abs.1 S.1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) für den Zeitraum vom 02.05.2022 bis 06.05.2022; die für diesen Zeitraum vom Kläger vorgebrachte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung könne den ihr vom BAG zugestandenen allgemeinen hohen Beweiswert für die Arbeitsunfähigkeit beanspruchen; eine Erschütterung des Beweiswerts durch die Kündigung der Beklagten vom 02.05.2022 sei nicht zu verzeichnen, da der Kläger die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Beklagten vor Zugang der Kündigung eingereicht habe.

Eine Erschütterung des Beweiswertes sei jedoch für die Folge-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu verzeichnen. Hierzu führt das BAG aus, dass im Ausgangspunkt die Erschütterungswirkung unabhängig davon eintrete, ob (1) die Kündigung als ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber oder durch den Mitarbeiter erklärt wird, und (2) für die Dauer der Kündigungsfrist eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden. Erforderlich und hinreichend sei, dass die Gesamtumstände des zu würdigenden Einzelfalls Indizien aufweisen, die Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit begründen. Hierauf kann eine zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigungsfrist und Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit hindeuten. Ernsthafte Zweifel liegen insbesondere dann vor, wenn der Arbeitnehmer sich zu einem Zeitpunkt krankschreiben lässt, zu welchem feststeht, dass das Arbeitsverhältnis endet und der Arbeitnehmer bis zum Ablauf der Kündigungsfrist eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen lässt; dies insbesondere, wenn der letzte Tag der Arbeitsunfähigkeit als letzter Kalendermonatstag auf einen Wochentag vor dem Freitag liegt. 

Folgen für die Praxis

Das BAG stellt mit seinem Urteil klar, dass die Erschütterung des Beweiswertes einer nach einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses beim Arbeitgeber eingereichten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung unabhängig davon angenommen werden kann, ob die Kündigung des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber oder vom Arbeitnehmer erklärt wird. Arbeitnehmer haben in diesem Fall Vollbeweis über die von ihnen angeführte Arbeitsunfähigkeit zu erbringen – und werden dies in der Praxis regelmäßig (nur) durch eine Entbindung des behandelnden Arztes von der Schweigepflicht und dem Beweisangebot seiner Vernehmung als Zeuge erreichen.

3. Verstoß gegen § 17 KSchG begründet keine Unwirksamkeit (mehr) einer Kündigung? (BAG Beschl. v. 14.12.2023, 6 AZR 157/22 und 01.02.2024 (2 AS 22/23 (A))

Der Sechste Senat des BAG hat in einem Beschluss vom 14.12.2023 (6 AZR 157/22) Zweifel an der bisherigen Rechtsprechung zur Rechtsfolge der Nichtigkeit einer betriebsbedingten Kündigung wegen Fehlern im Verfahren der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 und 3 KSchG geäußert – nachdem der EuGH am 13.07.2023 (C-134/22) entschieden hatte, dass diese dem Arbeitnehmer keinen Individualschutz gewähren sollen. Hierzu hat der Sechste Senat mit Beschluss vom 14.12.2023 in einem Verfahren nach § 45 Abs. 3 S. 1 ArbGG den Zweiten Senat des BAG aufgerufen, sich zu seiner bisherigen, gegenteiligen Rechtsauffassung zu äußern, der daraufhin mit Beschluss vom 01.02.2024 (2 AS 22/23 (A)) dem EuGH unter anderem die Rechtsfrage vorgelegt hat, ob die ordnungsgemäße Durchführung des Massenentlassungsanzeigeverfahrens eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung bildet.

Streitgegenstand der Ausgangsentscheidung des Sechsten Senats war eine Personalabbaumaßnahme, für die der beklagte Arbeitgeber annahm, dass diese die Schwellenwerte für die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige nach Maßgabe des § 17 KSchG nicht überschritt und daher auch keine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit erstattete. In einem zu der Personalabbaumaßnahme geführten Kündigungsrechtsstreit eines -von einer betriebsbedingten Kündigung seines Arbeitsverhältnisses aufgrund der Personalabbaumaßnahme betroffenen Arbeitnehmers - erkannte der Sechste Senat des BAG, dass die Schwellenwerte des § 17 KSchG in der Personalabbaumaßnahme erreicht sind und daher vor Ausspruch der relevanten Kündigungen die Durchführung des Massenentlassungsanzeigeverfahrens nach § 17 KSchG erforderlich gewesen wäre. Er rief zu der Frage über die für eine Verletzung des § 17 KSchG relevante Sanktion den EuGH an, der in seiner Entscheidung vom 17.05.2023 ausführte, dass § 17 KSchG keinen individualschutzbezogenen Charakter hat. 

Im Anschluss an diese Entscheidung des EuGH erkannte der Sechste Senat in seinem Beschluss vom 14.12.2023, dass der bloße Verstoß gegen den § 17 Abs. 1 und 3 KSchG für sich keine Unwirksamkeit der relevanten Kündigung begründen könne, da insbesondere § 17 KSchG kein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB inkludiere. Ein Verbotscharakter in Bezug auf die konkrete Gesetzesnorm im Sinne des § 134 BGB liege nur vor, wenn der Erfolg des  konkreten Rechtsgeschäfts verhindert werden soll. Der Sinn und Zweck des § 17 Abs. 1 und 3 KSchG sei es aber nicht, die Wirksamkeit der Kündigung an sich zu verhindern, sondern als eine reine Ordnungsfunktion zu fungieren, deren Zweck es sei, arbeitsmarktpolitische Auswirkungen zu regeln und bei Massenentlassungen rechtzeitig zu reagieren. Die Vorschrift hätte somit keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit einer Kündigung an sich. Die Nichtigkeitsfolge bei einer unterlassenen Massenentlassungsanzeige verstoße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da erheblich in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingegriffen werde und sei keine geeignete Sanktion für eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige. Durch das deutsche Kündigungsschutzrecht würden grundsätzlich nur solche Verstöße sanktioniert, die die Kündigung als solche hätten verhindern können. Dies sei bei der Massenentlassungsanzeige gerade nicht der Fall. 

Der Zweite Senat des BAG hat sich in seinem Beschluss vom 01.02.2024 im Ausgangspunkt den Erwägungen des Sechsten Senats angeschlossen und legte dem EuGH die Entscheidung der o.g. Rechtsfrage vor. Er stimmte im Ausgangspunkt dem Sechsten Senat dahingehend zu, dass die Nichtigkeit nach § 134 BGB eine unverhältnismäßige Folge eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG inkludieren könne. Er ist zugleich der Meinung, dass es nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei, wenn ein Verstoß gegen § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG keinerlei rechtlichen Einfluss auf die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses habe. Es sei eine differenzierte Betrachtungsweise erforderlich, nach der unterschieden wird, ob eine Anzeige gänzlich unterlassen wurde oder fehlerhaft erfolgt ist. Bei einer gänzlich unterlassenen Massenentlassungsanzeige sei der Zweck des § 17 Abs. 1 und 3 KSchG, Vermittlungsbemühungen für die entlassenen Arbeitnehmer einzuleiten, nicht erreicht. Daher solle die Wirkung einer Kündigung erst eintreten, wenn eine entsprechende Anzeige nachgeholt wurde und der Zeitraum der Entlassungssperre des § 18 KSchG eingehalten wurde. Hierfür sei die Frage zu beantworten, ob eine Nachholung der Massenentlassungsanzeige nach der Massenentlassungsrichtlinie überhaupt möglich sei. Eine Unmöglichkeit käme insofern einer Unwirksamkeit der Kündigung gleich. In diesem Fall würde der Zweite Senat an seiner Rechtsprechung festhalten. 

Zudem sei nach Auffassung des Zweiten Senats eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Ablauf der Entlassungssperre des § 18 Abs. 1 und 2 KSchG nicht möglich. In dieser Regelung sei die Sanktion einer unterlassenen oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige zu sehen. Der Agentur für Arbeit verbleibe so in jedem Fall ausreichend Zeit, um auf die Massenentlassung zu reagieren. Die Entlassungssperre könne erst dann an- und ablaufen, wenn eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Massenentlassungsanzeige, die den Vorgaben der Massenentlassungsrichtlinie entspricht, vollständig abgegeben wurde. Es sei nicht notwendig, dass eine Kündigung bei einer unterlassenen oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige unrettbar nichtig ist; der Kündigungszeitpunkt würde nur auf den Zeitpunkt nach einer entsprechenden Anzeige und dem Ablauf der Entlassungssperre verschoben. Die Agentur für Arbeit habe insofern nach Eingang einer Massenentlassungsanzeige zu prüfen, ob ggf. auf die Vervollständigung hinzuwirken ist und kann die Dauer der Entlassungssperre festlegen. Die Entscheidung sei sowohl für den Arbeitnehmer als auch für die Arbeitsgerichte bindend.

Übereinstimmend weisen die Senate in ihren jeweiligen Beschlüssen darauf hin, dass nach wie vor ein Verstoß gegen § 17 Abs. 2 KSchG zur Nichtigkeit einer Kündigung nach § 134 BGB führt, da es sich dabei um ein Verbotsgesetz handele. Die Vorschrift soll dem Betriebsrat ermöglichen, konstruktive Vorschläge zur Sicherung der Arbeitsplätze zu unterbreiten, um Kündigungen zu vermeiden.

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung des EuGH – und dann folgende abschließende Positionierung des Zweiten Senats des BAG – bleibt abzuwarten. Aus praktischer Sicht wäre eine Umsetzung der Erwägungen des Sechsten Senats für die Durchführung des Massenentlassungsanzeigeverfahrens wünschenswert – und zugleich werden Arbeitgeber bei relevanten Personalabbaumaßnahmen weiterhin die gebotene Sorgfalt bei der Vorbereitung und Durchführung des Massenentlassungsanzeigeverfahrens aufwenden, um relevante Diskussionen in späteren Kündigungsrechtsstreiten in jeder maßgeblichen Hinsicht zu vermeiden.

4. Entgeltfortzahlung bei behördlich angeordneter Quarantäne trotz unterlassener Impfung (LAG Hamm Urt. v. 24.08.2023, 15 Sa 1033/22 (bestätigt durch BAG Urt. v. 20.03.2024, 5 AZR 234/23 (Pressemitteilung), LAG Hessen Urt. v. 18.08.2023, 10 Sa 1361/22)

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm hatte in seinem Urteil vom 24.08.2023 (15 Sa 1033/22) und das LAG Hessen hatte in seinem Urteil vom 18.08.2023 (10 Sa 1361/22) Gelegenheit, das Bestehen des Entgeltfortzahlungsanspruchs eines nicht gegen COVID 19 geimpften Arbeitnehmers für einen Zeitraum, in dem er sich aufgrund einer Infektion mit dem Corona-Virus in behördlich angeordneter Quarantäne befand, zu entscheiden.

In dem dem Urteil des LAG Hamm vom 24.08.2023 zugrunde liegenden Sachverhalt (Fall 1) war der ungeimpfte Mitarbeiter am 26.12.2021 bei einer PCR-Testung positiv auf das Corona-Virus getestet worden, woraufhin die zuständige Gemeinde dem Kläger mit Ordnungsverfügung vom 29.12.2021 eine mindestens 14-tägige Quarantäne bis zum 12.01.2022 anordnete. Zwischen dem 27.12.2021 und dem 31.12.2021 wurde dem Kläger eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt. Für die Zeit vom 03.01.2022 bis zum 12.01.2022 erhielt der Kläger keine weitere Arbeitsunfähigkeit durch seinen Arzt ausgestellt, da dieser der Auffassung war, dass das positive Testergebnis und die Absonderungsanordnung ausreichen würden, um eine Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen. Die Beklagte kürzte den Brutto-Monatslohn des Klägers für den fraglichen Zeitraum. Dem Urteil des LAG Hessen (Fall 2) lag ein ähnlicher Sachverhalt zu Grunde: Die ungeimpfte Mitarbeiterin war in der Zeit vom 22.12.2021 bis zum 17.01.2022 arbeitsunfähig erkrankt und legte eine entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. In der Zeit vom 23.12.2021 bis zum 11.01.2022 wurde gegenüber der Klägerin behördenseits eine häusliche Quarantäne angeordnet, nachdem bei ihr COVID 19 nachgewiesen wurde. Auch ihr wurde der Brutto-Monatslohn um den fraglichen Zeitraum gekürzt. In beiden Fällen war eine Erbringung der Arbeitsleistung im Homeoffice – jeweils unstreitig – nicht möglich.

Beide Landesarbeitsgereichte gaben der jeweiligen Klage auf Entgeltfortzahlung gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 EFZG für den jeweiligen Zeitraum der COVID 19-Erkrankung statt. Ein an COVID-19 erkrankter Arbeitnehmer sei infolge Krankheit objektiv an seiner Arbeitsleistung verhindert und könne aufgrund der Erkrankung nicht mehr arbeiten, wenn er sich in Quarantäne begeben müsse. Dabei mache die Krankheit dem Arbeitnehmer die Erbringung der geschuldeten Leistung rechtlich unmöglich, sofern die Krankheit nicht symptomlos verlaufe und der Arbeitgeber verlangen könne, dass der Arbeitnehmer im Homeoffice arbeite. Der Entgeltfortzahlungsanspruch entstehe insoweit, wenn die COVID 19-Erkrankung die alleinige Ursache für die Arbeitsverhinderung inkludiere (Monokausalität). Die behördliche angeordnete Quarantäne schließe dabei die Monokausalität nicht aus; sie sei aus arbeitsrechtlicher Sicht (nur) Folge der Erkrankung und der damit einhergehenden Arbeitsunfähigkeit. 

Beide Gerichte führen zudem aus, dass die jeweils unterlassene COVID 19-Schutzimpfung kein für die Arbeitsunfähigkeit relevantes Verschulden des jeweiligen Mitarbeiters im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG begründe. Das LAG Hessen verneint in Bezug auf das Unterlassen der Impfung bereits ein subjektiv vorwerfbares Verhalten des Mitarbeiters, da sogar die Hersteller der Impfpräparate für sich nicht reklamiert hätten, dass ihre Impfstoffe dazu geeignet wären, jegliche Art von Erkrankungen und daraus folgende Arbeitsunfähigkeit zu verhindern. Das LAG Hamm bejaht ein subjektiv vorwerfbares Verhalten und verneint zugleich die für § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG erforderliche Kausalität für die Arbeitsunfähigkeit; dies mit der Erwägung, dass zum Zeitpunkt der Erkrankung des Mitarbeiters auch vollständig geimpfte Personen mit Impfdurchbrüchen und symptomatischen Corona-Infektionen hätten rechnen müssen, so dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Inanspruchnahme der empfohlenen Schutzimpfung die Corona-Infektion des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert hätte.

Folgen für die Praxis

Die Entscheidungen schließen eine weitere Rechtsfrage im Zusammenhang mit der Abwicklung von Arbeitsverhältnissen im COVID 19-Kontext. Ein Arbeitnehmer, der an COVID-19 erkrankt ist und sich in behördlich angeordneter Quarantäne befindet, ist objektiv an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert, sofern der Arbeitgeber nicht verlangen kann, dass der Arbeitnehmer bei einer symptomlosen Erkrankung aus dem Homeoffice arbeitet. Ein kausales Verschulden des Arbeitnehmers gegen sich selbst in Folge des Unterlassens der empfohlenen Schutzimpfung besteht nicht, wenn und da zum Zeitpunkt der Erkrankung mit Impfdurchbrüchen und einer symptomatischen Erkrankung von vollständig geimpften Personen zu rechnen ist. 

Die Entscheidung des LAG Hamm wurde zwischenzeitlich auch durch das BAG (Urt. v. 20.03.2024, 5 AZR 234/23) bestätigt. Ausgehend von der bisher /nur vorliegenden Pressemitteilung stützt das BAG seine Entscheidung auf identische Rechtsgrundsätze.

5. Einseitige Umstellung von jährlich gewährten Sonderzahlungen auf vorfällige, monatliche Teilzahlungen unter Anrechnung dieser auf den gesetzlichen Mindestlohn ist unzulässig (LAG Baden-Württemberg Urt. v. 11.01.2024, 3 Sa 4/23)

Das LAG Baden-Württemberg hatte in seinem Urteil vom 11.01.2024 (3 Sa 4/23) über die Frage zu entscheiden, ob der Arbeitgeber jährliche Sonderzahlungen einseitig auf monatliche Teilzahlungen umstellen kann, um diese dann auf den gesetzlichen Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG) anrechnen zu können. 

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall stritten die Parteien darüber, ob der gesetzliche Mindestlohnanspruch durch die monatliche Teilzahlung von jährlichen Sonderzahlungen (hier Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld) erfüllt werden kann. Die klagende Arbeitnehmerin begehrt von der beklagten Arbeitgeberin neben der Zahlung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes die Zahlung der Grundvergütung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns.

Die Klägerin ist seit dem 24.08.2000 bei der Beklagten mit einer durchschnittlichen monatlichen Arbeitszeit von 171 Stunden beschäftigt, wonach sich auch ihr monatliches Festgehalt berechnet. Darüber hinaus steht der Klägerin ein vertragliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld in Höhe von 50% eines Monatsgehalts zu. Die Auszahlung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes erfolgte bis 2021 in den Monaten Juni und November. Im Dezember 2021 kündigte die Beklagte schriftlich an, die Auszahlungen fortan in monatlichen Teilzahlungen zu leisten und auf den gesetzlichen Mindestlohn anzurechnen. In der Folge erhielt die Klägerin das Weihnachts- und Urlaubsgeld anteilig unter der Bezeichnung „13. Gehalt laufend“ ausgezahlt. In einem Schreiben im April 2022 wies die Beklagte darauf hin, dass nun keine zusätzlichen Gratifikationen mehr gezahlt werden, sondern die Zahlungen eine Vergütung für eine im Austauschverhältnis stehende arbeitsvertragliche Gegenleistung darstellen und die Fälligkeit der Leistungen nach § 271 Abs. 2 BGB vorgezogen wird.

Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte würde so die Regelungen des MiLoG umgehen und hätte sich eine Zustimmung zu den geänderten Auszahlungsmodalitäten einholen müssen, welche die Klägerin mit Schreiben vom 05.01.2022 verweigert habe. Die Beklagte führt an, dass es für die Erfüllung des Mindestlohns nur darauf ankomme, dass dieser tatsächlich durch Zahlung erfüllt werde. Sie habe entsprechend der gesetzlichen Regelung § 271 Abs. 2 BGB vor der eigentlichen Fälligkeit der Leistung leisten dürfen.

Das LAG Baden-Württemberg gab der Klage teilweise statt und verurteilte die Beklagte zur Zahlung der Differenz zwischen dem geleisteten Stundenlohn bis zur Höhe des gesetzlichen Mindeststundenlohns neben den Sonderzahlungen. Die Klägerin habe Anspruch auf die Vergütung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns für die jeweils geleisteten Stunden sowie zusätzlich Anspruch auf Zahlung des vertraglich vereinbarten Urlaubs- und Weihnachtsgeldes. Es sei unzulässig, die Sonderleistungen in Form von Weihnachts- oder Urlaubsgeld einseitig in monatliche Zahlungen umzuwandeln und diese auf den Mindestlohn anzurechnen. Grundsätzlich könne zwar jede Leistung, die im Synallagma zu der durch den Arbeitnehmer erbrachten Leistung steht, auf den Mindestlohn angerechnet werden. Solche Zahlungen, die jedoch ohne Rücksicht auf die tatsächliche Arbeitsleistung des Klägers erbracht werden oder eine besondere Zweckbestimmung haben, kommt keine Erfüllungswirkung zu. Die Parteien hätten sich hier dem § 614 BGB entsprechend durch die wiederkehrende Leistung der Sonderzahlungen im Juni und im November auf einen Zahlungszeitpunkt geeinigt. Die Zahlung der Leistungen in den Monaten Juni und November hätte Indizwirkung, da es sich um Zahlungen handelt, die typischerweise höhere Ausgaben – für Urlaub und Weihnachten - ausgleichen soll. Es läge somit eine Zeitbestimmung nach § 271 Abs. 1 BGB vor. Die Beklagte könne sich nicht auf § 271 Abs. 2 BGB berufen, wonach der Schuldner zahlen darf, wenn eine Leistung noch nicht fällig, aber bereits erfüllbar ist. Diese Regelung greife nur dann, wenn sich nicht aus Gesetz oder Vereinbarung etwas anderes ergibt. Das Interesse der Klägerin an einer nicht vorfälligen Leistung sei hier darin zu sehen, dass diese bei einer nicht vorgezogenen Leistung nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden kann. Eine Änderung der Auszahlung wäre daher nur zulässig, wenn die Klägerin der Änderung zugestimmt hätte. Aufgrund der verweigerten Zustimmung sei die laufende Zahlung der Sonderzahlungen unzulässig und eine Anrechnung auf den gesetzlichen Mindestlohn im konkreten Fall ausgeschlossen. Ob das Weihnachtsgeld und das Urlaubsgeld hier synallagmatische Leistungen darstellen, hat das LAG Baden-Württemberg offen gelassen.

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung zeigt anschaulich die erforderliche Abschichtung der – späteren – Anrechnung von einzelnen gewährten Vergütungsbestandteilen auf den Mindestlohn nach dem MiLoG auf: Eine Sonderzahlung, die in monatlichen Raten ausgezahlt wird, kann auf den gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden, wenn diese im Synallagma zu der durch den Arbeitnehmer erbrachten Leistung steht. Zudem bedarf die Änderung von vereinbarten Zahlungsmodalitäten wie der Umstellung jährlich zu leistender Sonderleistungen in vorfällig und anteilig monatlich zu leistende Leistungen der Zustimmung des Mitarbeiters.

6. Eine Minderheitsbeteiligung an der Muttergesellschaft wirkt sich nicht auf den sozialversicherungsrechtlichen Status eines Fremdgeschäftsführers bei der Tochtergesellschaft aus (LSG Niedersachsen-Bremen Beschl. v. 27.09.2023, L 2 BA 59/22)

Das LSG Niedersachsen-Bremen hatte in seiner Entscheidung vom 27.09.2023 (L 2 BA 59/22) Gelegenheit zur Erörterung der Rechtsfrage, inwiefern eine Beteiligung als Minderheitsgesellschafter an der Muttergesellschaft Auswirkungen auf den sozialversicherungsrechtlichen Status als GmbH-Geschäftsführer bei der Tochtergesellschaft hat.

Nach einer Betriebsprüfung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund wandte sich die klagende Tochtergesellschaft gegen die Heranziehung ihres Geschäftsführers zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen durch die beklagte DRV Bund, die die Auffassung vertrat, dass die Klägerin den Geschäftsführer im Rahmen eines abhängigen und somit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses beschäftige. 

Der beigeladene Geschäftsführer war seit 1990 auf der Grundlage eines Anstellungsvertrags für die Klägerin tätig. Die Tätigkeit als Fremd-Geschäftsführer ohne Beteiligung am Gesellschaftskapital der Klägerin übte der Beigeladene bis Ende 2015 aus, zuletzt mit einem Jahresbruttogehalt von ca. 70.000,00 EUR. Alleinige Gesellschafterin der Klägerin war bis 2013 die Muttergesellschaft, eine GmbH & Co KG. Komplementärin war zunächst die IK GmbH, deren Geschäftsführerin die Tochter des Beigeladenen war. Die Tochter war zugleich alleinige Gesellschafterin der IK GmbH. Gemäß den Regelungen des Gesellschaftsvertrags der Muttergesellschaft ist die Komplementärin zur Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft berechtigt und verpflichtet. Die Komplementärin hat in der Gesellschafterversammlung kein Stimmrecht. Kommanditisten der KG waren bis Juni 2012 der Beigeladene mit einer Kommanditeinlage von 34.800 EUR sowie seine Tochter und sein Sohn mit einer Kommanditeinlage von jeweils 100 EUR. Darüber hinaus schloss der Beigeladene mit seinen Kindern im Jahr 2012 in Bezug auf die jeweils zu verzeichnenden Beteiligungen jeweils einen schuldrechtlichen Stimmbindungsvertrag ab. Im Oktober 2013 gründete die Muttergesellschaft als alleinige Gesellschafterin die IO GmbH, Geschäftsführerin dieser GmbH war ebenfalls die Tochter des Beigeladenen. Nach dem Gesellschaftsvertrag kommen Beschlüsse der Gesellschaft mit einfacher Mehrheit zustande.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass der Geschäftsführer keine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt habe. Unter Berücksichtigung des Stimmbindungsvertrags sei von einer weisungsfreien geschäftsführenden Tätigkeit auszugehen, die zudem gesellschaftsrechtlich abgesichert sei.

Das LSG Niedersachsen-Bremen wies die Klage ab und bejaht ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen. In Fortschreibung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könne ein Geschäftsführer seine Tätigkeit nur dann selbstständig ausüben, wenn er am Gesellschaftskapital beteiligt sei. Beträgt die Beteiligung weniger als 50 % der Anteile am Stammkapital, müsse der Geschäftsführer die Rechtsmacht besitzen, durch Einflussnahme auf die Gesellschafterversammlung „die Geschicke der Gesellschaft“ bestimmen zu können. Dies sei dadurch möglich, dass dem an der Muttergesellschaft beteiligten Geschäftsführer durch deren Gesellschaftsvertrag die Möglichkeit eingeräumt ist, Beschlüsse der Gesellschafterversammlung der Tochtergesellschaft unmittelbar zu beeinflussen und damit zugleich ihm nicht genehme Weisungen zu verhindern (sog. Sperrminorität). Dies setze aber voraus, dass der Gesellschaftsvertrag der Muttergesellschaft eine abweichende Zuständigkeit für Maßnahmen der gewöhnlichen Geschäftsführung, insbesondere in Form der Mitwirkung der Gesellschafterversammlung der Muttergesellschaft bei Gesellschafterbeschlüssen auf Ebene der Tochtergesellschaft vorsieht. Alternativ müsse es ein Zustimmungserfordernis der Gesellschafterversammlung der Muttergesellschaft für entsprechende Maßnahmen der gewöhnlichen Geschäftsführung, insbesondere in Form der Mitwirkung bei Gesellschafterbeschlüssen auf Ebene der Tochtergesellschaft geben.

Diese Grundsätze ließen sich aufgrund einer gleich gelagerten Interessenlage auf den vorliegenden Fall mit einer Muttergesellschaft in der Rechtsform einer Kommanditgesellschaft übertragen.

Die erforderliche Rechtsmacht, der es für eine selbstständige Geschäftsführer-Tätigkeit des Geschäftsführers bedürfte, ist nach Ansicht des LSG Niedersachsen-Bremen abzulehnen. Vorliegend seien dem Beigeladenen gesellschaftsrechtlich keine Möglichkeiten eingeräumt worden, Weisungen an seine Tochter als Geschäftsführerin der Tochtergesellschaft und der IO GmbH zu erteilen. Der Gesellschaftsvertrag der Muttergesellschaft sähe weder ein Zustimmungserfordernis der Gesellschafterversammlung für Maßnahmen der gewöhnlichen Geschäftsführung vor, noch enthalte der Gesellschaftsvertrag eine Regelung zur Mitwirkung bei Gesellschafterbeschlüssen auf Ebene der Tochtergesellschaft. Dies obläge der Tochter als Geschäftsführerin der Muttergesellschaften. Zudem verfüge der Beigeladene seit 2012 nur noch über eine geringfügige Beteiligung an der Muttergesellschaft i.H.v. 5 %. Eine für die selbstständige Tätigkeit des Geschäftsführers erforderliche Weisungsfreiheit ergebe sich auch nicht aus der Stimmrechtsvereinbarung. Diese sei insbesondere nicht im Gesellschaftsvertrag verankert. Die sozialrechtlich gebotene Vorhersehbarkeit statusrechtlicher Entscheidungen setze eine gesellschaftsrechtliche Regelung voraus.

Folgen für die Praxis

Das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen fügt sich in die jüngere Rechtsprechung des BSG (zuletzt etwa Urt. v. 23.02.2021, B 12 R 18/18 R), demnach ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis des Geschäftsführers einer GmbH nur (noch) dann verneint werden könnte, wenn dieser die Rechtsmacht hat, ihm nicht genehme Weisungen zu verhindern. Hierfür kommt es entweder auf den Anteilsbesitz oder entsprechende Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag an. Mit weiteren Gesellschaftern vereinbarte Stimmbindungen sind ebenfalls im Gesellschaftsvertrag zu verankern, bloße schuldrechtliche Vereinbarungen sollen hierfür nicht ausreichen.

7. Kein Anspruch auf Übertragung von Jahresurlaub bei angeordneter Quarantäne für Zeiträume bis zum 16.9.2022 (EuGH Urt. v. 14.12.2023, C-206/22)

Am 14.12.2023 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil (C-206/22) festgestellt, dass ein Zusammentreffen einer behördlich angeordneten Quarantäne wegen Kontakts mit einer mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierten Person mit einem bereits in diesem Zeitraum gewährten Jahresurlaub, den Urlaubsanspruch dennoch erfüllt und kein Anspruch auf Übertragung des Jahresurlaubs besteht. Mit Inkrafttreten des § 59 Abs. 21 Infektionsschutzgesetz (IfSG) sind zugleich Tage der behördlich angeordneten Absonderung – mithin solche in behördlicher Quarantäne – aber seit dem 17.12.2022 nicht auf den Jahresurlaub anzurechnen.

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt gewährte der Arbeitgeber dem klagenden Mitarbeiter für den Zeitraum vom 03.11.2020 bis zum 11.12.2020 seinen Jahresurlaub. Am 02.12.2020 wurde gegenüber dem Mitarbeiter von der zuständigen Verwaltungsbehörde gemäß § 28 IfSG eine Quarantäne angeordnet, da dieser mit einer Person Kontakt hatte, die mit dem COVID 19-Virus infiziert war. Der Mitarbeiter beantragte daraufhin beim Arbeitgeber die Übertragung der Urlaubstage, die mit der angeordneten Quarantäne zusammenfielen. Der Arbeitgeber lehnte den Antrag ab. 

In dem anschließend vom Mitarbeiter hierzu eingeleiteten Rechtsstreit legte das Arbeitsgericht Ludwigshafen dem EuGH die Rechtsfrage vor, ob ein Arbeitnehmer, dem bezahlter Jahresurlaub gewährt wurde und der während dieses Zeitraums unter behördlicher Quarantäne wegen einer COVID 19-Erkrankung gestellt wird, einen Anspruch auf Übertragung seiner Urlaubstage für den Quarantänezeitraum habe. 

Der EuGH erkannte in seinem Urteil, dass die behördlich angeordnete Quarantäne keinen Anspruch auf zusätzlichen Urlaub oder eine Übertragung des bereits gewährten Urlaubs auf relevante Folgezeiträume begründe, da der Zweck des Jahresurlaubs darin bestehe, sich von der beruflichen Tätigkeit zu erholen und über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen. Damit unterscheide sich der Zweck des Jahresurlaubs vom Zweck des Krankheitsurlaubs, der aufgrund physischer oder psychischer Beschwerden eine Erholung entgegensteht. Ein Quarantänezeitraum stehe dem Zweck des Jahresurlaubs, aber anders als eine Krankheit, nicht entgegen. 

Eine nationale Regelung oder Gepflogenheit, die die Übertragung von bezahltem Jahresurlaub während einer Quarantäne verbietet, verstoße somit nicht gegen das Unionsrecht. Dies gelte auch wenn der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein grundlegendes Sozialrecht der Europäischen Union (EU) sei, das in Art. 31 Abs. 2 GRCh ausdrücklich verankert ist und die Mitgliedstaaten die Gewährung des Jahresurlaubs nicht restriktiv auslegen dürften. 

Zur weiteren Erläuterung führten die Richter des EuGH in den Urteilsgründen an, dass während eines Jahresurlaubs der Arbeitnehmer keiner Verpflichtung unterliegen dürfe, die ihn daran hindern könnte, seine Freizeit zu genießen. Eine behördlich angeordnete Quarantäne führe aber nicht zu einer diesbezüglichen Einschränkung. Die behördlich angeordnete Quarantäne diene lediglich dem Zweck, die Verbreitung einer Krankheit zu verhindern. Der Arbeitnehmer sei während des Jahresurlaubs von Verpflichtungen gegenüber dem Arbeitgeber befreit und sollte frei über seine Freizeit verfügen können. Es liege aber in der Risikosphäre des Arbeitnehmers, wenn bestimmte Ereignisse den genommenen Urlaub stören.

Folgen für die Praxis

Der EuGH bestätigte damit die Rechtsprechung der meisten Arbeits- und Landesarbeitsgerichte, die Arbeitnehmern in Fällen der Quarantäne keinen Anspruch auf Gutschrift der Urlaubstage gewährten (u.a. LAG Schleswig-Holstein Urt. v. 15.02.2022). 

Praktische Bedeutung entfaltet die Entscheidung zwar nur für Fälle, in denen der Urlaubs- und Quarantänezeitraum vor dem 16.09.2022 lag, da der im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie geschaffene und am 17.09.2022 in Kraft getretene § 59 Abs. 1 IfSG die Anrechnung der Tage der Absonderung auf den Jahresurlaub verbietet und Arbeitnehmer – entgegen der Rechtsprechung des EuGH - für Zeiträume ab dem 17.09.2022 einen Anspruch auf Verlegung ihres Jahresurlaubs haben. Die Entscheidung des EuGH über den Sonderfall der Quarantäne hat aber auch verlauten lassen, dass der Arbeitgeber keinen subjektiven Urlaubsgenuss schuldet, da der objektive Zweck des unionsrechtlichen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub auch dann erreicht wird, wenn der gewährte Zeitraum der Entspannung und Freizeit von privaten Verpflichtungen oder Unannehmlichkeiten überlagert wird, die dem Lebensbereich und der Risikosphäre des Arbeitnehmers zuzuordnen sind – dieser Rechtssatz lässt sich auch auf andere Sachverhalte verallgemeinern, in denen der Arbeitnehmer in seiner Urlaubszeit mit fremdbestimmten Verfügungen oder sonstigen verpflichtenden Handlungsanweisungen versehen wird.

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10 April 2024 | Deloitte Legal Webcast #6/2024

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