Zum Hauptinhalt springen

Konjunkturelle Implikationen des Ukraine-Krieges für Deutschland: Drei Szenarien

Die Invasion Russlands in der Ukraine kann einschneidende konjunkturelle und wirtschaftliche Folgen haben. In erster Linie für Russland, das infolge der Sanktionen eine sehr tiefe Rezession zu erwarten hat, aber auch für Deutschland, Europa und die Welt.

Die Risiken für die deutsche Wirtschaft betreffen sowohl die Nachfrage- als auch die Angebotsseite. Auf der Nachfrageseite sind die Exporte nach Russland betroffen, entweder weil sie sanktioniert werden oder weil sich Unternehmen freiwillig zurückziehen. Auf der Angebotsseite sind die Unternehmen über die Entwicklung von Rohstoffpreisen und deren Implikationen für Lieferketten betroffen sowie über die Energieversorgung und die Entwicklung von Energiepreisen. Diese Effekte zusammengenommen belasten die Konjunktur und treiben die Inflation. Wie stark diese Effekte sein werden, hängt von der Dauer des Krieges ab, der Entwicklung der Sanktionen und den Marktreaktionen. Diese Unsicherheiten machen exakte Konjunkturprognosen schwierig, wenn nicht unmöglich. Verschiedene Konjunktur-Szenarien – abhängig von der Entwicklung in der Ukraine – können jedoch zumindest Orientierungspunkte bieten.

Dabei wird die Konjunktur in Abhängigkeit vom Verlauf des Krieges und seinem Einfluss vor allem auf Energiepreise und Investitions- und Konsumverhalten geschätzt. Deloitte Research hat in diesem Zusammenhang drei Szenarien für die deutsche Konjunktur entwickelt. Dabei liegt die Spannbreite der Inflationsprognosen zwischen 4,1 und 8,3 Prozent, die Wachstumsprognose zwischen 0,6 und 3 Prozent. Immerhin: In keinem der betrachteten Szenarien würde Deutschland in die Rezession rutschen, allerdings nimmt das Risiko einer Stagflation, also einer hohen Inflation bei niedrigem oder stagnierendem Wachstum, zu.

 

Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft

 

Nachdem der Aufschwung der deutschen Wirtschaft durch die Omikron-Welle vertagt wurde, war die Erwartung, dass der Aufschwung ab dem zweiten Quartal wieder an Fahrt aufnehmen würde. Eine leichte Entspannung bei den höchst angespannten Lieferketten Anfang des Jahres schien auch in diese Richtung zu deuten. Höhere Inflation, sehr enge Arbeitsmärkte und steigende Energiepreise waren die hauptsächlichen Risiken.

 

Russland als Exportmarkt von begrenzter Bedeutung

 

Der Krieg in der Ukraine ändert die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Austausches allerdings grundlegend. Dabei ist die deutsche Volkswirtschaft als Ganzes eher weniger von der Unterbrechung des Handels betroffen. Seit der Annexion der Krim 2014 ist der Handel mit Russland im Sinkflug begriffen; Russland ist für weniger als zwei Prozent der deutschen Exporte verantwortlich, womit es auf Platz 14 der wichtigsten Handelspartner (und damit zwischen Ungarn und Schweden) liegt. Deutschland exportiert dabei vor allem Maschinen, Autos und Chemieprodukte. Einen etwas überproportionalen Exportanteil hat Russland für den Maschinenbau und die Getränkeindustrie, bei Bierexporten liegt beispielsweise der Anteil der Exporte nach Russland bei fast 10 Prozent der Gesamtexporte. Aber auch aufgrund eines sehr hohen Auftragsbestandes in der deutschen Industrie, der sich in der Corona-Zeit aufgestaut hat, ist ein Wegfall der Exporte nach Russland gesamtwirtschaftlich verkraftbar. Umgekehrt ist die Europäische Union mit weitem Abstand Russlands wichtigster Exportmarkt und für ein Drittel des russischen Außenhandels verantwortlich.

 

Lieferketten und Energie als größte Risikofaktoren

 

Anders ist die Situation im Hinblick auf die Lieferketten. Die Top-Exportartikel Russlands sind Brennstoffe und Öl, Rohstoffe, Metalle, Eisen und Stahl sowie Getreide. Die Ukraine exportiert vor allem Getreide sowie Eisen und Stahl. Lieferschwierigkeiten, Knappheiten oder eine Unterbrechung der Lieferungen Richtung Deutschland können die Produktion der deutschen Industrie deutlich einschränken und zu neuen Belastungen der Lieferketten führen.

Ein genauerer Blick auf die Importe zeigt auch, dass Russland bei manchen Rohstoffen momentan eine dominierende Stellung bei den deutschen Importen in der jeweiligen Kategorie aufweist. Bei Nickel und Titan kommen über 40 Prozent der jeweiligen deutschen Importe aus Russland, bei Eisenerzeugnissen ist es etwas mehr als ein Drittel.

Neben den Lieferketten liegen die größten Risiken im Energiesektor. Fast 60 Prozent der deutschen Importe aus Russland sind Erdöl oder Erdgas. Bei Erdgas, das über Pipelines nach Deutschland kommt, lag der Anteil Russlands 2020 bei 55 Prozent. Die explodierenden Energiepreise und die Gefahr einer Unterbrechung der Energielieferungen, sei es durch einen Stopp durch Russland oder ein Embargo durch Europa, können sich zu einem Angebotsschock auswachsen.

Damit liegen die hauptsächlichen Risiken für die deutsche Wirtschaft weniger auf der Nachfrageseite über Exporte nach Russland, sondern auf der Angebotsseite: durch Risiken für Lieferketten, steigende Rohstoff- und Energiepreise sowie die Gefahr eines Import-Stopps von Energie.

 

Drei Konjunkturszenarien

 

Wie sich der Krieg entwickelt, wie lange er dauert und wie er ausgeht, ist völlig unklar. Es sind dabei allerdings drei Szenarien vorstellbar.

  1. Zeitnahe diplomatische Lösung beziehungsweise ein Waffenstillstand im zweiten Quartal 2022.
  2. Andauern des Krieges bis in den Herbst hinein und danach eine zumindest wirtschaftliche Normalisierung.
  3. Langanhaltender Krieg, der bis weit ins nächste Jahr hinein andauert.

Jedes dieser Szenarien geht mit unterschiedlichen Energiepreisen für Öl und Gas einher. Wir schätzen diese auf der Basis von Analystenprognosen und gehen von Ölpreisen zwischen 95 Dollar und 130 Dollar im Jahresdurschnitt aus. Bei Gaspreisen liegt die Spanne zwischen 80 und 200 Euro pro Megawattstunde. Der Kriegsverlauf und die Preissteigerungen je Szenario gehen mit einem unterschiedlich hohen Unsicherheitsschock einher und damit mit unterschiedlichen Auswirkungen auf das Investitionsverhalten der Unternehmen und die Nachfrage der Konsumenten.

Diese Einflussfaktoren zusammengenommen führen im Vergleich zur Vorkriegsprognose von 3,5 Prozent Wachstum und 3,9 Prozent Inflation zu folgenden Ergebnissen. Im Szenario einer baldigen Lösung des Konflikts würde der konjunkturelle Effekt im Vergleich zur Vorkriegs-Prognose relativ gering ausfallen und das Wachstum 3 Prozent betragen. Die Inflation würde leicht auf 4,1 Prozent steigen. Sollte der Krieg bis in den Herbst andauern, mit entsprechenden Auswirkungen auf Energiepreise und Lieferketten, würde das Wachstum um 1,2 Prozentpunkte auf 2,3 Prozent sinken; die Inflation würde auf 5,1 Prozent steigen. Im Downside Szenario eines Krieges bis ins Jahr 2023 hinein könnte das Wachstum auf 0,6 Prozent zurückgehen und die Inflation deutlich auf 8,3 Prozent steigen.

Ausblick

 

Welches der drei Szenarien das wahrscheinlichste ist, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu beurteilen. Eine schnelle Einigung der Kriegsparteien erscheint allerdings derzeit nicht in Sicht, so dass die Szenarien eines längeren Krieges leider plausibel sind. Und es gibt sicherlich auch noch andere vorstellbare Szenarien, die die Konjunktur noch stärker beschädigen und eine Rezession hervorrufen können, wie ein Stopp der russischen Gaslieferungen. Dennoch können die hier vorgestellten Szenarien ein erster Orientierungspunkt sein, in welche Richtungen sich die deutsche Konjunktur entwickeln könnte.

Langfristig könnten die Veränderungen, die der Krieg hervorruft, noch tiefgreifender sein. Der Umbau der deutschen Energieversorgung ist ein offenkundiges Thema. Genauso muss sich die deutsche Wirtschaft aber auch auf mögliche Veränderungen im geopolitischen Umfeld einstellen. Die mittelfristige Möglichkeit einer verstärkten Blockbildung würde die Globalisierung des Handels und der Investitionen sehr stark in Frage stellen, was wiederum Absatzmärkte und Lieferketten fundamental beeinflussen würde. Das Management politischer Unsicherheiten dürfte damit länger auf der unternehmerischen Agenda bleiben.