Der EuGH hatte sich in einem Vorabentscheidungsverfahren damit auseinanderzusetzen, ob der Verlust von Steuervorteilen aufgrund der Anwendung des DBA Belgien-Luxemburg einen Verstoß gegen Unionsrecht darstellt, wenn es dadurch zu einer Ungleichbehandlung von Unionsbürger:innen je nach Ursprung ihrer Einkünfte kommt. Dabei hatte der Gerichtshof im Wesentlichen eine etwaige Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Kapitalverkehrsfreiheit zu prüfen. In Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH unterstreicht die Entscheidung einmal mehr, dass Beschränkungen von Grundfreiheiten nur in seltenen Fällen zulässig sind.
In der Rs C-241/20 „BJ“ vom 15.7.2021 erzielte der in Belgien steuerlich ansässige Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Erwerbstätigkeit und aus der Vermietung von unbeweglichem Vermögen in Luxemburg. Daneben bezog der Kläger auch in geringerem Umfang Einkünfte aus der Vermietung einer in Belgien gelegenen Liegenschaft. Bei Ermittlung der belgischen Einkommensteuer waren zunächst sowohl die luxemburgischen als auch die belgischen Einkünfte zu berücksichtigen. Von der hierauf ermittelten „Basissteuer“ wurden in weiterer Folge die im belgischen Steuerrecht vorgesehenen Steuerfreibeträge und Steuervergünstigungen für langfristiges Sparen und Energieeinsparung in Abzug gebracht. Erst im letzten Schritt erfolgte gemäß dem DBA Belgien-Luxemburg die Steuerfreistellung der in Luxemburg erzielten Einkünfte durch anteilige Reduktion der vorab ermittelten Basissteuer. Der Reihenfolge der Anrechnung zufolge reduzierten sonach die im belgischen Steuerrecht vorgesehenen Steuervergünstigungen die belgische Einkommensteuer im Ergebnis nur in geringem Umfang. Im Ausmaß der Zuordnung zu den freizustellenden luxemburgischen Einkünften gingen die Steuervergünstigungen verloren.
Das vorlegende Gericht wandte sich mit der Frage an den EuGH, ob die Steuerregelung einen Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw gegen die Kapitalverkehrsfreiheit darstellt, wenn deren Anwendung bedingt, dass der:die Steuerpflichtige bei der Einkommensermittlung im Wohnsitzstaat persönliche Steuervergünstigungen teilweise einbüßt, weil er:sie Einkünfte in einem anderen Mitgliedsstaat bezogen und dort versteuert hat und diese im Inland aufgrund eines DBA steuerbefreit sind. Darüber hinaus hatte sich der EuGH damit auseinanderzusetzen, ob bei der Beurteilung auch weitere Umstände entscheidungsrelevant sind, namentlich die Relation zwischen den erzielten inländischen und ausländischen Einkünften oder aber die Gewährung von vergleichbaren persönlichen Steuervorteilen im anderen Staat.
Der Gerichtshof hielt zunächst fest, dass es grundsätzlich Sache des Wohnsitzmitgliedsstaates ist, dem:der Steuerpflichtigen sämtliche an seine:ihre persönliche und familiäre Situation geknüpften steuerlichen Vergünstigungen zu gewähren. Wie bereits der vorlegende Gerichtshof geurteilt hatte, konnte die gegenständliche Steuerregelung dazu führen, dass ein:e in Belgien wohnende:r Unionsbürger:in nur deswegen nicht in den vollständigen Genuss dieser Vergünstigungen kam, da seine:ihre Einkünfte nicht ausschließlich belgischen Ursprungs waren.
Nach Ansicht des EuGH stellte dies im Ergebnis eine Beschränkung sowohl der Arbeitnehmerfreizügigkeit (nichtselbständige Einkünfte) als auch der Kapitalverkehrsfreiheit (Investition in Immobilien) dar. Eine hinreichende Rechtfertigung der Beschränkungen konnte in beiden Fällen nicht vorgebracht werden.
Dabei schadet es laut EuGH bei der Beurteilung nicht, wenn der:die Steuerpflichtige im Wohnsitzmitgliedstaat keine nennenswerten Einkünfte erzielt, solange es dem Mitgliedstaat aufgrund ausreichender steuerpflichtiger Einkünfte möglich ist, die persönliche und familiäre Situation des:der Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. Auch die Gewährung etwaiger Steuervergünstigungen nach luxemburgischem Recht konnte nach Ansicht des Gerichts Belgien nicht von seinen Verpflichtungen entbinden, da weder durch die Mechanismen des Steuerabkommens noch durch das Steuersystem Belgiens verbindlich gewährleistet war, dass in Luxemburg die gesamte persönliche und familiäre Situation des:der Steuerpflichtigen im Ganzen gebührend berücksichtigt wird. Derartig (in Luxemburg) einseitig gewährte steuerliche Vergünstigungen wären nach Ansicht des EuGH selbst dann nicht entscheidungsrelevant, wenn diese betraglich mindestens jenen entsprächen, die dem:der Steuerpflichtigen im Wohnsitzmitgliedstaat (Belgien) entgangen sind.
Der EuGH stellt durch sein Urteil klar, dass eine Regelung im Hinblick auf Arbeitnehmerfreizügigkeit und Kapitalverkehrsfreiheit unionsrechtswidrig sein kann, wenn diese Regelung im Ergebnis bewirkt, dass persönliche und familiär bedingte Steuervorteile im Wohnsitzstaat dann (teilweise) verloren gehen, wenn der:die Steuerpflichtige (auch) solche – gemäß den Bestimmungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung im Wohnsitzstaat steuerbefreite – Einkünfte ausländischen Ursprungs erzielt. Einseitig gewährte steuerliche Vergünstigungen im anderen Staat entbinden den Wohnsitzstaat hierbei nicht zwingend. In Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung unterstreicht der Gerichtshof einmal mehr, dass eine Beschränkung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten nur sehr restriktiv zugelassen wird, dh jedenfalls einer hinreichenden Rechtfertigung im Einklang mit den Vorgaben des Vertrages bedarf.